Stadtentwicklung

Über den Mut, die Innenstädte neu zu denken

Viel Flair in der Altstadt von Recklinghausen. Foto: Stadt Recklinghausen

Unter dem Motto „Heute Zukunft planen – Corona-Stillstand nutzen!“ gaben die Referenten beim Webinar der GMA praktische Tipps, wie die Probleme in Deutschlands Innenstädten gelöst werden können.

Schlagzeilen über den Bedeutungsverlust der Innenstädte, abzulesen an den drastischen Frequenzrückgängen, gibt es schon seit Jahren. Selbst namhafte internationale Einkaufsstraßen wie die New Bond Street oder die Oxford Street in London verzeichneten 2020 nach den Worten von Raimund Ellrott, Bereichsleiter Immobilienwirtschaft bei der GMA, deutlich sinkende Besucherzahlen. Die Zwangsmaßnahmen im Rahmen der aktuellen Pandemiebekämpfung dämpfen den Besucherstrom zusätzlich. So schätzt Ellrott den Frequenzrückgang in den innerstädtischen Einkaufslagen auf 30 bis 40% und den Umsatzrückgang beim innerstädtischen Einzelhandel auf 20 bis 30%.

Vor diesem Hintergrund gibt Kirsten Riedel, Projektleiterin bei der GMA Köln, zu bedenken, dass der Restart der deutschen Innenstadtlagen nach Abebben der Pandemie sehr kraftvoll ausfallen müsse, um für genügend Aufmerksamkeit zu sorgen. Aus ihrer Sicht sollten die Städte mit einem „Restart-Programm“ einen starken Impuls setzen, wie sie in ihrem Vortrag „Der richtige Zeitpunkt für Veränderungen: Masterplan(ung) Innenstadt“ darlegte. Es sei inzwischen beim letzten angekommen, dass die Innenstädte unter den Zwangsmaßnahmen leiden.

Deshalb hält sie auch das Förderprogramm des Heimatministeriums „Landesinitiative Zukunft. Innenstadt. Nordrhein-Westfalen (NRW)“ für sehr sinnvoll. Die Landesregierung hatte das Programm am 9. Juli 2020 initiiert, um die Innenstädte zu stärken und den Frequenzverlusten in Folge des Online-Booms und des ersten Shutdowns im Frühjahr mit seinen fatalen Folgen entgegenzuwirken. Ziel des Programms ist es, durch Maßnahmen und finanzielle Unterstützung die Handlungsfähigkeit der Akteure vor Ort zu sichern und Zeit für neue Lösungen zu gewinnen. Denn Städte und Gemeinden sowie die Immobilieneigentümer brauchen Zeit, um sich auf eine gemeinsame Zukunftsstrategie zu verständigen.

Dass die Ruhrgebietsstadt Recklinghausen mit ihren rund 120 000 Einwohnern bei diesem Thema schon einen Schritt weiter ist, verdeutlichte Georg Gabriel,Abteilungsleiter Stadtmarketing und Tourismus der Stadt Recklinghausen, in seinem Vortrag „Standortmarketing in Zeiten der Pandemie – Praxisbericht aus der „Guten Stube – Altstadt Recklinghausen“. So unterstützt das Standortmarketing die von den Zwangsschließungen betroffenen Einzelhändler mit Hilfe von Plakaten, die überall in der Stadt aufgehängt wurden, um den Händlern ein Gesicht zu geben. Das stärkt die lokale Kundenbindung.

Um den Altstadthandel nach dem ersten Shutdown im Frühjahr 2020 wieder anzukurbeln, veranstaltete das Stadtmarketing vier Aktionstage. Als Anreiz für den Einkauf in der Altstadt wurden den Besuchern freie Parkplätze geboten, kostenlose Fahrten mit dem Bus und 5 Euro Gutscheine für die, die mit dem Fahrradfahrer kamen. Deren Drahtesel wurden zudem kostenlos bewacht und gewaschen.

„Ruhrgemütlich einkaufen“ in der Altstadt

Das Fundament für diese schnellen Aktionen hatte die Stadt, die eine Kaufkraft-Kennziffer von 97 und eine Zentralitätskennziffer von 113,1 aufweist, im Jahr 2012 gelegt, als der Rat der Stadt ein integriertes Handlungskonzept für die Altstadt verabschiedete, das auch als Grundlage für die Städtebauförderung diente. Ziel der Marketingstrategie ist es, Recklinghausen als attraktive Einkaufs- und Erlebnisstadt zu bewerben. Dafür wurden auch die wichtigen Akteure der Stadt und die Eigentümer der Immobilien in die Marketingstrategie eingebunden.

Bei der Ermittlung der Grundwerte, die Recklinghausen und seine Bürger als charakteristisch für ihre Altstadt sehen, spielten die Themen „Bodenständigkeit, Geselligkeit, Verlässlichkeit“ eine zentrale Rolle. Wie Gabriel berichtet, ging es darum, eine Botschaft über und einen Look für die Stadt zu entwickeln. Heraus kam der Slogan: „Ruhrgemütlich einkaufen in Recklinghausen“. Und die „Gute Stube“ der Stadt ist die Altstadt mit ihren zahlreichen Baudenkmälern. Die Gestaltung des Logos soll an die alte Tafel erinnern, auf die Händler früher mit Kreide ihre Angebote schrieben.

Mit dem Slogan „Ruhrgemütlich einkaufen in unserer Altstadt“, mit dem auch die Einzelhändler in ihren Geschäften werben, ging das Standortmarketing überall auf Werbetour – im Hörfunk, digital und in den Sozialen Medien. Das „i-Tüpfelchen“ der Kampagne bildet das eigens konzipierte „Gute-Stube-Brot“.

Die klassischen Werbegemeinschaften früherer Jahre, die meist unter dem Vorsitz eines Karstadt- oder Kaufhof-Filialleiters ehrenamtlich arbeiteten, gehören laut Gabriel der Vergangenheit an. Die Arbeit eines Altstadtmanagers ist ein Hauptberuf inkl. eines weiteren Mitarbeiters mit Büro in der Altstadt, ganz nah am Geschehen. Ganz wichtig ist dabei aus seiner Sicht der Kontakt zu den Immobilieneigentümern.

Finanzielle Unterstützung für ihre Aktionen erhielt die Stadt etwa aus dem Verfügungsfonds der zu 50% aus Mitteln der Städtebauförderung und zu 50% mit Geldern von Kommunen und privaten Akteuren finanziert wird. Mit Geldern aus dem Fassadenprogramm wurde die Sanierung von Häuserfassaden unterstützt. Und das NRW-Sofortprogramm Innenstadt nutzt das Stadtmarketing um Pandemie-bedingte Probleme wie Leerstand zu überbrücken. Und die Wiedereröffnung nach dem aktuellen Shutdown soll in der Altstadt mit Hilfe der bewährten Plakataktion mit dem Konterfei der Einzelhändler unterstützt werden.

Aus Sicht von Katharina Staiger, Projektleiterin bei der GMA in Köln, gehört Mut dazu, Innenstädte neu zu denken. Immerhin gilt es, sehr viele Interessen unter einen Hut zu bringen, wobei auch aus ihrer Sicht die frühzeitige Einbeziehung der Immobilien und ihrer Eigentümer ein wesentlicher Baustein des Planungsprozesses ist, wie sie in ihrem Vortrag über „Post Corona – Perspektiven für den Standort Innenstadt“ darlegte. Und immer wichtiger wird der Freizeitaspekt: „Wer in die Innenstadt geht, der will etwas erleben“, gibt sie zu bedenken: Trotz der aktuellen Unwägbarkeiten ist Staiger überzeugt, dass es auch nach Corona noch Perspektiven für die Innenstädte geben wird.

Elementar ist in diesem Kontext aber die finanzielle Unterstützung, wie auch der Handelsverband Deutschland (HDE) immer wieder fordert. Vor diesem Hintergrund plädiert Projektleiterin Kirsten Riedel dafür, ein Förderprogramm für die Innenstädte wie es in NRW initiiert wurde, für ganz Deutschland aufzulegen.

Der Blick aus der perspektive eines Fachhändlers

Den Blick aus der Perspektive eines Fachhändlers richtete Andreas Voigtländer, Inhaber von Hut Mühlenbeck (Fotos: Hut Mühlenbeck), auf den durch die Pandemie durcheinander gewirbelten Einzelhandelsmarkt. Als Fachgeschäft für Damen- und Herren-Kopfbedeckung, das im Jahr 1925 von Willy Mühlenbeck gegründet und 1954 von Voigtländers Vater übernommen wurde, hat der Fachhändler gezeigt, dass man in der Nische überleben und sich als Spezialist profilieren kann – allerdings auch deshalb, weil sich das stationäre Traditionshaus immer an den digitalen Zeitgeist anpasste.

So hatte der Händler bereits 2004 eine Homepage eingerichtet und ab 2010 auch über Ebay Ware verkauft. Allerdings merkt Voigtländer an, dass die Gebühren für die Nutzung von Ebay schon recht hoch sind. 2011 richtete er einen eigenen Online-Shop ein, um die Gebühren zu sparen. Ein Nachteil des Online-Geschäfts ist aus seiner Sicht, dass es auch gelegentlich vorkommt, dass Kunden ihre Rechnungen nicht begleichen und deshalb Inkasso-Unternehmen eingeschaltet werden müssen. Das ist der Preis der größeren Reichweite.

Im Jahr 2013 startete Mühlenbeck die Zusammenarbeit mit Amazon und 2018 folgte die Zusammenarbeit mit dem Online-Service Amazon Prime, den Voigtländer mit großen Gebinden beliefert. Das brachte nach seinen Worten einen regelrechten Schub, so dass 2019 mit einem Online-Anteil von 45% das beste Jahr von Hut Mühlenbeck war. So konstatiert der Fachhändler auch zufrieden, dass Mühlenbeck den Umsatzausfall im Jahr 2020 komplett kompensieren konnte. Ein Nachteil des Online-Handels sind freilich die Retouren, die bei etwa 25% liegen und die Gebühren, die von 12% bis 37% (fürs Auslandsgeschäft) reichen können.

Dennoch ist der Fachhändler überzeugt, dass die Innenstädte wichtig bleiben, aber sie würden schrumpfen, die Mieten sinken und der Leerstand steigen. Für die Städte wird es aus seiner Sicht zwar weiter gehen, doch würden sich die Beteiligten anstrengen müssen, um sie attraktiv zu halten. Dabei spielt der Handel laut Ellrott aber die zentrale Rolle, denn wenn „wir für den Einzelhandel in den Innenstädten keine Lösung finden, dann werde es für die Innenstädte keine Zukunft geben.