Nachhaltigkeit im Einzelhandel

Transformation mit Wachstumsoptionen

Neuzeitlicher Marktplatz in einer alten Industriehalle. Foto: Habona

Der Anteil der Menschen, der beim Konsum mehr Wert auf Nachhaltigkeit legt, ist in den vergangenen Jahren mit hoher Geschwindigkeit gewachsen. Die völlige Veränderung der Lebens- und Arbeitsabläufe durch die Zwangsmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und Klimakatastrophen haben das Bewusstsein für den nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen geschärft und die Fehlentwicklungen in Städten, Handel und der modernen auf Effizienz getrimmten Wirtschaft offengelegt.

Angefangen mit bewusster Ernährung und ökologisch angebauten Lebensmitteln zieht das Thema Nachhaltigkeit inzwischen immer weitere Kreise – bis hinein in die Städte und ihre künftigen Strukturen, die Frage nach den gleichen Lebensverhältnissen in Stadt und Land bis hin zu der Frage, wie in diesem Umfeld künftig mit Immobilien umgegangen werden muss und welche wichtige Rolle in diesem Strukturwandel beispielsweise der Lebensmittelhandel spielt, der sich in der vergangenen Dekade durch hohe Innovationsfähigkeit ausgezeichnet hat.

„Sowohl die Erkenntnisse aus der Pandemie als auch die Neubewertung geopolitischer Abhängigkeiten haben dem lange auch ideologisch geführten Diskurs um Nachhaltigkeit neuen Schub gegeben“, heißt es denn auch im neuen Habona Report 2022. „Den begonnenen ökologisch-sozialen Umbau der Wirtschaft sehen wir ähnlich wie die Digitalisierung und den demografischen Wandel als einschneidende Transformation, die neue Wachstumsoptionen bietet“, schreiben Johannes Palla,geschäftsführender Gesellschafter der Habona Invest und Manuel Jahn, geschäftsführender Gesellschafter der Habona Invest Consulting.

Für zusätzliche Beschleunigung sorgt der Green Deal der EU, womit das Ziel verfolgt wird, bis 2050 die Treibhausgasneutralität zu erreichen. Und Deutschland möchte mit den Maßnahmen seines Klimaschutzprogramms die Emissionen bis 2030 um 55% gegenüber 1990 zu senken und bis 2050 klimaneutral zu sein.

Um diesem Ziel etwa in den dezentral in Lebensfunktionen wie Wohnen, Arbeiten und Einkaufen aufgeteilten deutschen Städten näher zu kommen, geht es auch darum, den Einzelhandel und das Thema Wohnen wieder mehr zusammen zu denken. Beispiel Lebensmittelhandel: Zwar ist es laut Habona Report schwerlich möglich, die bestehenden 37 000 Lebensmittelmärkte bis 2050 allesamt in grüne Gebäude umzuwandeln, doch besteht die Möglichkeit, Wohnviertel und tägliche Nahversorgung im Rahmen des Quartiersgedankens räumlich näher zusammenzubringen.

Dadurch kann sich der Weg für den Lebensmitteleinkauf unter Umständen zum Fußmarsch verkürzen. Denn der „Einkaufsverkehr“ macht mit etwa 40 Mio. Fahrten täglich laut Report hierzulande immerhin rund 15% des Verkehrsaufkommens aus und verursacht 7,483 Mio. t CO2, die bis 2050 eingespart werden müssen. Zwar ist der Anteil der Einkaufsfahrten rückläufig, doch zeigen die Zahlen, dass viele fürs Einkaufen auf den Pkw angewiesen sind. Das gilt vor allem im ländlichen Raum.

Engere Verknüpfung von Wohnen und Nahversorgung

In den Städten besteht laut Habona die Chance, die engere räumliche Verknüpfung zwischen Wohnen und Nahversorgung durch Nachverdichtung zu erreichen. So können auf eingeschossigen Lebensmittelmärkten Wohnungen aufgestockt werden, wenn die Statik das zulässt, oder andererseits die Nahversorgung in monofunktionale Wohnblöcke integriert werden. Hier dürfte es in Deutschland noch viel Potenzial geben, da früher Wohnblocks meist ohne Lebensmittelmärkte oder Gastronomieangebote entwickelt wurden. Bei Mischobjekten mit Lebensmittelmarkt im Erdgeschoss und Wohnungen darüber oder in der Nachbarschaft eröffnet sich zudem die Chance, die Abwärme aus der Kühltechnik „für den Wärmebedarf in den Wohnungen zu nutzen“, wie es im Report heißt: „Mit den so geschaffenen integrierten Energiekreisläufen können nennenswerte energetische Einsparungen realisiert werden.“

Allerdings setzt das voraus, dass die Investoren über ihren Schatten springen und die Anlage-Klassen Lebensmittelhandel einerseits und Wohnungen andererseits nicht mehr als separate Segmente betrachten – wie das in der Vergangenheit schon wegen der unterschiedlichen Anforderungen lange üblich war. Mischobjekte waren verpönt. Doch eine zu isolierte Betrachtung der beiden Funktionen ist laut Habona mit dem Risiko verbunden, die oben aufgezeigten Potenziale einer Nachhaltigkeitstransformation zu übersehen.

„So ermöglicht die Kombination aus Wohnen und wohnortnaher Versorgung erst die Errichtung resilienter Quartiere, wie sich in der Corona-Pandemie eindrücklich zeigt“, heißt es im Report. In der Tat haben sich in Zeiten von Zwangsschließungen und Homeoffice die Stadtteilzentren besser geschlagen als die Cities. Diese Betrachtung über die Grenzen der Assetklassen hinweg müssen Investoren beachten, damit das Ziel klimaneutraler Gebäude erreicht werden kann.

Ein weiteres Thema mit großer Relevanz für die Nachhaltigkeit und die Klimaneutralität ist der innerstädtische Leerstand in kleineren Städten, die vom Strukturwandel stark betroffen sind. Dabei geht es um leerstehende Shopping-Center, Kaufhäuser, Büro- und Versicherungsgebäude, ehemalige Fabriken und Lagerhallen, Kirchen oder Kasernen, die in zentralen Lagen nicht selten das Viertel prägten oder wichtige Wiedererkennungsmerkmale für die Besucher und identitätsstiftend für die Anwohner waren. Bei Kaufhäusern und Shopping-Centern kommt hinzu, dass die Frequenz wegbricht und der benachbarte Einzelhandel Umsatzverluste erleidet.

Abriss und Neubau oder Sanierung?

Bei der kontroversen Diskussion über „Abriss und Neubau oder Sanierung des Altbestandes“, spricht laut Report mit Blick auf das in den Beständen gespeicherte CO2 vieles für die Sanierung. Denn: „Den hohen Kosten einer funktionalen und energetischen Sanierung von Altbauten steht Einsparpotenzial in der vorgelagerten Produktionskette gegenüber.“ In Zeiten von Lieferengpässen gilt das umso mehr.

Hinzu kommt, dass – mit Blick auf die soziale Dimension – der Umbau von bestehenden Projekten bei den Bürgern besser ankommt und im Rahmen von nachbarschaftlichen Beteiligungsprozessen leichter durchsetzbar ist als Neubauprojekte.

Als Positivbeispiel wird im Report die äußerliche Rekonstruktion des historischen Karstadt-Hauses am Hermannplatz in Berlin genannt, das während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. Nur ein kleiner Mauerrest blieb stehen und wurde in das heutige Warenhaus integriert. Bei der Bestandsentwicklung des neuen Karstadt bleiben die Sockelgeschosse aus Stahlbeton als CO2-Speicher erhalten und die plakativen Turmgeschosse sollen in Holzbauweise aufgesetzt werden.

Wie alte, architektonisch ansprechende Fabrikgebäude in ein Quartierszentrum umgewandelt werden kann, zeigt das Beispiel Kassel. In der 100 Jahre alten Eisenschmiede an der Schnittstelle der beiden Stadtteile Nord Holland und Fasanenhof entstand durch Umbau und Sanierung eine Markthalle, die von Edeka betrieben wird. Der größte Supermarkt in der Kasseler Nordstadt ist vor allem bei den Studenten der nahegelegenen Universität sehr beliebt und bildet den multikulturellen Kiez von Nord Holland.

Vervollständigt wird der Quartierscharakter durch das an die Markthalle angebaute Wohngebäude mit 20 Studenten- und Sozialwohnungen. Das sichere die soziale Durchmischung im Quartier und verhindere, dass die alteingesessene Bevölkerung verdrängt werde, heißt es im Report. Für die Habona sind solche fußläufig erreichbaren Nahversorger mit sozialer Bedeutung fürs Quartier Teil der ESG-Unternehmens- und Immobilienstrategie. 2021 hat sie das Objekt in Kassel erworben.

Im ländlichen Raum wird der Transformationsprozess geprägt von Themen wie Landflucht genauso wie der Suburbanisierung, also der Umzug der Städter aufs Land. Probleme haben aber vor allem Kommunen wie Sinntal im Main-Kinzig-Kreis, die aus zwölf Ortsteilen besteht, nur wenige Arbeitsplätze bietet und in den vergangenen Jahren viele Einwohner verloren hat. So sank die Zahl der Einwohner von 10 000 im Jahr 1993 auf inzwischen 8 700. Etwa 20% pendeln täglich zur Arbeit in andere Orte.

Langfristige Abwärtsspirale in benachteiligten Räumen

„Benachteiligte Räume mussten in den vergangenen 20 Jahren eine erhebliche Ausdünnung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Infrastruktur hinnehmen“, heißt es im Report: „und gerieten in eine langfristige Abwärtsspirale“. Sinkende Bevölkerungszahlen bedeuten weniger Kaufkraft, so dass auch dem Handel und der Gastronomie der Boden entzogen wurde. Und Leerstand erzeugt einen Dominoeffekt im Umfeld. Die Versorgungsfunktion leidet und die Gemeinde verliert auch als Wohnstandort an Attraktivität.

Obwohl die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet in Artikel 72 Abs 2 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, so ist das Gefälle zwischen den Oberzentren und dem ländlichen Raum immer größer geworden. Doch mit der Digitalisierung und den Möglichkeiten von Remote Work besteht laut Report erstmals wieder die Chance, diese Polarisierung etwas aufzulösen. Zumal es nach den langen Phasen des Homeoffice in beengten Stadtwohnungen wieder mehr Menschen aufs Land zieht, wo sich Familien größere Wohnungen und damit Raum fürs Heimbüro leisten können. So wurde laut Empirica AG 2020 in den großen Städten kein Zuzug mehr registriert.

Im ländlichen Raum ist der Lebensmittelhandel nicht selten als letzter Versorger übriggeblieben und dient daneben – meist zusammen mit einer Bäckerei inkl. Café – als sozialer Treffpunkt. In der Gemeinde Sinntal übernehmen seit 2018 ein 1 300 qm großer Rewe-Markt und ein 600 qm großer Getränkemarkt im zentralen Ortsteil Sterbfritz die politisch geschützte Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und die Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt.

Sich als Investor, Finanzierer oder Genehmigungsbehörde für den Erhalt oder die Wiederherstellung solcher Nahversorgungsstrukturen einzusetzen, ist aus Sicht von Habona ein Aspekt der „sozialen Nachhaltigkeit“ und der Investor ist überzeugt, dass mit dem qualitativen Ausbau der Versorgungsinfrastruktur eine Positivspirale ausgelöst werden könnte, sodass wieder mehr Familien zuziehen und die ältere Bevölkerung bleibt. Es wäre gut, wenn sich so mancher Nonfood-Händler mit angepassten Konzepten dem Trend anschließen würde.