Die Renaissance der Quartiere

Starre B-Pläne und Silodenken helfen nicht weiter

Rückbesinnung auf klassische Quartiere. Foto: Habona

Seit im Zuge des Strukturwandels durch die Digitalisierung und Corona-bedingten Zwangsschließungen viel Handelsfläche freigesetzt wird, wächst auch das Bewusstsein dafür, dass die Einkaufslagen durch die Fokussierung nur auf den Einzelhandel mit immer den gleichen Filialisten viel Lebendigkeit eingebüßt haben. Das befeuert die Diskussion über die richtige Mischung für Innenstädte, Stadtteilzentren und Wohngebiete. Der Sehnsuchtsort sind die Marktplätze früherer Jahrzehnte. Das zentrale Stichwort in diesem Diskurs heißt „Quartier“ – und das mit der richtigen Mischung aus „Wohnen, Arbeiten und Einkaufen“.

„Durch die Rückbesinnung auf gemischt genutzte Stadtgebiete profitieren die Menschen von einer höheren Lebendigkeit, Aufenthalts- und Nahversorgungsqualität“, schreibt Manuel Jahn, Head of Business Development von Habona Invest in der Sonderausgabe 2021 „Investieren im Quartier“, die Ende September auf den Markt kommt. Dabei spielt aus Sicht des Architekten und Städteplaners Jan Gehl auch der Klima-Aspekt eine wesentliche Rolle, wenn er in seinem Buch Städte für Menschen schreibt: „Die verdichtete Stadt mit gut vernetzten Verkehrswegen (…) ist die einzige umweltschonende, nachhaltig lebensfähige Stadt.“

Übertragen auf städtische Strukturen bedeutet dies die Auflockerung des Viertels durch Parkanlagen, Cafés für die sozialen Kontakte, das Lebensmittelgeschäft und den Drogeriemarkt für die tägliche Versorgung, Räume für Arztpraxen, Physiotherapeuten und Kindergärten in neuen Nahversorgungsimmobilien oder Mixed-Use-Objekten sowie Spielplätzen im Umfeld. Auch Umbauideen für die bestehenden Strukturen gehören laut Habona Report zu diesem Ansatz. Der Motor für diese Entwicklung ist die Re-Urbanisierung, also die Rückbesinnung vieler Menschen auf die Städte, wobei als Wohnort die Stadtteile und Randlagen bevorzugt werden, so dass hier von der „Suburbanisierung“ gesprochen wird.

Vor diesem Hintergrund befassen sich die großen Städte schon länger mit der Frage, wie eine „ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltige Stadtentwicklung aussehen kann“, wie es im Report heißt. Die „stadtplanerische Antwort“ darauf sei das „Quartier“ mit seinen kurzen Wegen für alle notwendigen Besorgungen und das sei heute auch das bevorzugte Leitbild der europäischen Stadt. Verschiedene Städte und Länder befassen sich denn auch mit der effizienten Einbindung der Nahversorgung in die städtischen Quartiere.

ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltige Stadtentwicklung

Diese Sichtweise wurde durch die Pandemie-bedingten Zwangsmaßnahmen wie Homeoffice und soziale Distanz verstärkt, da sich laut Report die Defizite dieser strikten Funktionstrennung städtischer Strukturen in Arbeiten, Wohnen und Einkaufen, die mit der Industrialisierung einherging, in diesem Umfeld nun voll zeigen und der öffentlichen Diskussion über Nutzungsmischungen neue Nahrung geben. Vor allem der Wiederaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg mit monofunktionalen Wohngebieten hat diese Trennung verfestigt. Hinzu kam später die Zersiedelung des Stadtrands durch die Ansiedlung von Eigenheimen in den Vorstädten, die auch mit dem Siegeszug des Autos einherging.

Dieser Trend kehrt sich seit Ende der 1980er- und dem Beginn der 1990er-Jahre um. Er wird laut Report allerdings begrenzt durch „technische Regelwerke, starre B-Pläne und weitverbreitetes Silodenken“. Dadurch werde vielfach weiterhin die „gegliederte und aufgelockerte“ Stadt begünstigt. Doch effiziente Bürohäuser, bezahlbare Wohnungen und Elektromobilität allein würden keine Urbanität erzeugen, heißt es im Report, „wenn sie in monofunktionalen Raumwüsten stattfinden“.

Für die heute viel diskutierten „Quartiere“ gibt es viele Definitionen. „Besonders applikabel für die Immobilienwirtschaft sind die Mischformen unter den Definitionen der Quartiere, welche sowohl räumliche als auch soziale Merkmale mitaufnehmen“, findet Manuel Jahn. In diesem Kontext hebt er die Perspektive von Philip Feldmann hervor, der Quartiere als „innenstadtnahe Bereiche“ definiert, die geprägt sind von einer hohen baulichen Dichte, der fußläufigen Erreichbarkeit wichtiger Einrichtungen, eine ausgeprägte Nutzungsmischung und einer funktionierenden Infrastruktur für die Nahversorgung. Quartiere sind demnach die unmittelbare Lebenswelt ihrer Bewohner, in der es viele soziale Interaktionen gibt. Zudem sind sie idealerweise gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln an andere Stadtteile angebunden, so dass auf das Auto weitgehend verzichtet werden kann – anders als in monofunktionalen Stadtstrukturen, bei denen die Wege weit sind.

Und die kleinteilige Nutzungsmischung in idealen Quartieren wie den historischen Stadtvierteln aus Wohnen, Arbeiten und Handel sowie weiteren Dienstleistungen sorgt für Risikostreuung, so dass der Ausfall einzelner Spieler nicht zum Niedergang des gesamten Viertels führt. So sind Quartiere auch als Anlageklasse attraktiv.

 Aus Immobiliensicht und mit Blick auf das Potenzial der Standorte stellt sich laut Habona-Report die Frage, wo sich – gemessen an der höchsten Frequenz – das Zentrum eines Quartiers befindet. Entscheidend sei dabei die Frage, „was die Lebendigkeit und die Frequenz an die Zentren städtischer Räume bindet“. Hier gibt Jane Jacobs in ihrem Buch Tod und Leben großer amerikanischer Städte die Antwort: Es ist die „ausbalancierte Mischung aus den drei Hauptfunktionen Wohnen, Handel und Arbeiten für die Lebendigkeit eines öffentlichen Raumes verantwortlich“. Das mobilisiert die größte Frequenz und sorgt für Interaktion zwischen den Menschen.

Dabei bilden diese Hauptnutzungen aber in erster Linie den Rahmen, indem sie durch die erhöhte Frequenz eine Nachfrage nach weiteren Angeboten schaffen, die das Viertel erfüllen muss. Im Fokus steht der größte gemeinsame Nenner der Menschen im Quartier und das ist aus Sicht von Experten wie Ralf Beckmann die Deckung des täglichen Bedarfs durch den Lebensmittelhandel, der schon heute in vielen Wohnvierteln und Mischobjekten den Grundstock für die Versorgung bildet.

Denn die Branche zieht es nach dem Auszug in den 1970er- und 1980er-Jahren auf die grüne Wiese nun zurück in die Innenstadtlagen. Laut Habona-Report akzeptiert der Lebensmittelhandel vor allem in städtischen und verdichteten Lagen „immer häufiger auch Mixed-Use-Konzepte in zuweilen anspruchsvollen Gebäudekonzepten, um noch näher an den Kunden zu rücken, aber auch, um die immer höheren Hürden bei der Genehmigung eingeschossiger, Gebäudekonzepte zu umgehen und um die immer höheren Grundstückskosten abfedern zu können“.

Den Lebensmittelhandel zieht es wieder in die Städte

Doch da die Menschen angesichts ihres geringen Zeitbudgets heute darauf angewiesen sind, bei einem Einkaufsgang möglichst viel zu erledigen – Stichwort: One-Stop-Shopping – ist es sinnvoll, den Lebensmittelmarkt mit anderen (lebens)notwendigen Angeboten zu koppeln. Dazu gehören diverse Angebote der Nahversorgung aber auch Arzt-, Pflege- und Gesundheitseinrichtungen, Bildungs- und Ausbildungsstätten, Dienstleister oder Kindertagesstätten. Und für die Freizeitgestaltung Gastronomie, Bars, Cafés und Kultureinrichtungen. Davon profitieren auch Handel und Immobilie.

Dabei geht es laut Habona-Report nicht nur um die kleinteilige Nutzungsmischung, sondern auch um die Kopplungseffekte zwischen den angebotenen Funktionen. Dazu ein Beispiel: Nach dem Training im Fitness-Studio wird noch schnell für das Abendessen eingekauft und ein Paket an der Packstation abgeholt. „Obwohl sich der Verbund dieser Aktivitäten sehr anbietet“, so heißt es im Report, „ist dies in der noch stark monofunktional geprägten deutschen Stadtstruktur alles andere als selbstverständlich“.

Denn die Funktionen sind nicht selten auf Büroparks oder Wohnsiedlungen verteilt und vielfach ist es bei den Entfernungen auch notwendig, das Auto zu nutzen. Das hat mit Aufenthaltsqualität wenig zu tun, wie unschwer zu erkennen ist. Deshalb liegt es auf der Hand, die Nutzungen in den Quartieren auf die Grundbedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen.

Allerdings: „Kopplungs- und Verbundeffekte sind nicht so universell ableitbar, wie sie zunächst klingen“, heißt es im Report. Entscheidend für die Nutzungsmischung ist die Struktur der Bevölkerung, die je nach Alter und Einkommen unterschiedliche Bedürfnisse hat. Jüngere bevorzugen Freizeitangebote und Kneipen, für Ältere ist eine gute Infrastruktur im medizinischen Bereich wichtig. „Jede Gruppe hat in Abhängigkeit ihrer demographischen Merkmale und individueller Lebensstile andere Vorlieben und Bedürfnisse,“ heißt es dazu weiter.

Die richtige Mischung muss genau ausgelotet werden

Deshalb ist die Zusammensetzung der Bevölkerung im neuen Quartier naturgemäß das maßgebliche Kriterium für die Nachfrage nach einer wohnungsnahen Grundversorgung in punkto Gastronomie, sozialer Infrastruktur, Freizeit und Naherholung. Dabei kommt, wie bereits oben erwähnt, der übergeordneten Bedeutung des Lebensmittelhandels zur Grundversorgung für Alt und Jung und alle sozialen Schichten die zentrale Bedeutung im Quartier zu.

Sie übernimmt die zentrale Ankerfunktion im städtischen Viertel. Diese große Bedeutung der Branche als „systemrelevant“ und „krisenfest“ stellte sie auch während der Pandemie unter Beweis, weil sie zu den wenigen Geschäften gehörten, die offenbleiben durften. Hinzu kommt – nicht zuletzt auch im ländlichen Raum – die soziale Funktion der Lebensmittelmärkte als Treffpunkt, vor allem, wenn sie auch Gastronomie bieten.

Der häufigste Standort für neue Quartiere ist in Mittelstädten mit einem Anteil von 60% laut Report die grüne Wiese. Laut Bundesinstituts für Bau- Stadt- und Raumforschung (BBSR) entstehen fast 30% der Quartiersentwicklungen auf ehemaligen Industriebrachen oder Militärkonversionen. Und auf Grünflächen in Großstädten, die einen besonderen Schutz genießen, entstehen nur noch 18% der Quartiere. „Welche Lage als Entwicklungsstandort besser geeignet ist, hängt jedoch sehr von der entsprechenden Bedarfs- und Strukturbedingungen vor Ort ab“, heißt es dazu.