Der Lebensmitteleinzelhandel gewinnt die Herzen zurück

Wie Phönix aus der Asche emporgestiegen

Nahversorgungzentrum in Mannheim Käfertal. Foto: Blank Real Estate

Kaum eine Branche hat in den vergangenen Wochen solch eine persönliche Wertschätzung erfahren wie der deutsche Lebensmitteleinzelhandel. Ob für Panik- oder Hamstereinkäufe, die noch verfügbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gaben alles, um die Läden am Laufen zu halten. Schließlich wurde dem Lebensmitteileinzelhandel Systemrelevanz zuerkannt. Die Zuwächse werden mit insgesamt 14% von Januar bis April angegeben. Tatsächlich berichten Kaufleute aus wohnortnahen Standorten von 30 bis 40 Mehrumsatz. (Mai: real 6,4%, nominal 9,3%)

Corona hat auch die Aufmerksamkeit auf die Zustände in deutschen Schlachthöfen gelenkt. Der Deutsche Ethikrat hat am 16. Juni 2020 den verantwortlichen Umgang mit Nutztieren angemahnt und die Bundesregierung unmissverständlich zum Handeln aufgefordert. Die Zeit könnte reif sein, da die Verbrauchernachfrage nach Qualität, Bio und regionalen Produkten überproportional steigt.

Laut GfK ist für 55% der Kundinnen und Kunden Qualität von Lebensmitteln wichtiger als den Preis. Die Konsumforscher haben auch gemessen, dass während der Pandemie die Nachfrage nach frischen Produkten nochmals um über 16% gewachsen ist. Auch der Wunsch nach regionalen Produkten ist mit 80% so hoch wie nie zuvor. Globale Lieferketten werden zunehmend mit Argwohn betrachtet. In unsicheren Zeiten stehen umso mehr Vertrauen und Gesundheit im Fokus.

Qualität schlägt Preis

Der Trend zu mehr Qualität zeichnete sich schon in den vergangenen 15 Jahren ab – auch als Folge von demografischen Veränderungen und durch die wachsende Ausbreitung von Wissen und Information über digitale Kanäle. Mit Mittelmäßigkeit geben sich die Kunden nicht mehr zufrieden. Qualität muss sein, gern auch der Preis.

Denn wenn der niedrige Preis mit Schockbildern aus dem Hühnerstall verbunden ist, dann darf‘s auch mal teurer sein. Das Gewissen isst schließlich mit. Seitdem der Lebensmitteleinzelhandel dies verstanden hat, wächst er auch wieder, sowohl beim Umsatz, bei den Margen als auch in der Flächenproduktivität. Höhere Erlöse ermöglichen bessere Immobilien, attraktivere Einrichtungen und aufwändigere Sortimente. Eine positive Rückkopplung, die sich seit Jahren selbst verstärkt und zu Wachstumsraten deutlich oberhalb der Einkommenszuwächse geführt hat.

Angesichts der aktuellen Verwerfungen im Textil- und Modehandel lohnt ein Blick auf die Entwicklung im Lebensmitteleinzelhandel, der nach der Novelle von § 11 Abs. 3 Baunutzungsverordnung (BauNVO) im Jahr 1986 zunächst eine ungeahnte Fusions- und Übernahmewelle erlebte, die den Markt durch die Entstehung einiger weniger Großunternehmen (Oligopol) völlig veränderte. Maßgebliche Treiber der Konzentration waren zunächst die Saarbrücker ASKO AG und die Düsseldorfer Metro.

Das Ziel: Das Filialnetz durch Unternehmensübernahmen zu vergrößern, nachdem die Eröffnung großer Einzelhandelsflächen mit mehr als 1 200 qm Geschossfläche durch die BauNVO-Novelle massiv beschränkt und organisches Wachstum stark behindert wurde.

Das Motiv hinter dem ungebremsten Wachstum: Einkaufsmengen zu bündeln und auf Grundlage von Nachfragemacht günstigere Einkaufskonditionen auszuhandeln, um im Preiswettbewerb mithalten zu können. Nach Beobachtung des Bundeskartellamts verdienten einige Unternehmen in dieser Phase mehr durch bessere Einkaufskonditionen als mit ihrem operativen Geschäft. Metro-Chef Erwin Conradi umschrieb das so: „Es sitzt sich sehr viel komfortabler vor Größen wie Unilever und Nestlé, wenn man selbst ein Großer ist.“

Größenwachstum für den günstigsten Preis

Ende 1989 katapultierte sich die Kölner Rewe in die Riege der Großen, indem sie ihre Beteiligung an der Bad Homburger Leibbrand-Gruppe (HL, Minimal, Penny) auf 100% aufstockte. Dass es bei der Fusionswelle auch um ein „Fressen oder Gefressen werden“, ging, wie Conradi es nannte, zeigte sich 1992, als Metro den Wettbewerber Asko komplett schluckte. Weitere namhafte Übernahmen folgten in den 2000er-Jahren, als der Edeka Verbund die Beteiligung an der Bielefelder AVA AG (u.a. Marktkauf) auf 100% aufstockte und die Spar Handels AG (u.a. Bolle, Eurospar, Spar) übernahm.

Gleichzeitig wurde das Filialnetz im Lebensmittelhandel verkleinert. Waren in Deutschland 1990 noch gut 85 000 Geschäfte am Netz, sank diese Zahl etwa bis 2013 auf 38 000. Man mag heute den wohlklingenden Namen wie Comet, Deutscher Supermarkt, Extra, Minimal, Kaiser’s, Otto Mess, Pro, Stüssgen oder Safeway nachtrauern, das Thema Einkaufserlebnis wie bei den europäischen Nachbarn mit Anbietern wie Brugsen, Delhaize,Migros oder Waitrose, stand hierzulande nicht auf der Agenda. Unternehmensberater kritisierten denn auch, dass der deutsche Einzelhandel nur ein Marketinginstrument kenne: die Werbung mit dem günstigsten Preis.

Die „Black Swans“ des Lebensmitteleinzelhandels

Neue hedonistische Milieus brachten zwar schon in den 1990er-Jahren mehr Anspruchsdenken in den Handel, aber eine Flanke für neue Konzepte und Wettbewerber wurde erst durch die Serie von Lebensmittelskandalen geöffnet: 1988 Hormonfleisch, 1994 Schweinepest, 1997 Glykol im Wein und Nematoden, 2000 Rinderwahnsinn, 2001 Antibiotikaskandal, 2003 Dioxinfutter, 2005 Ekelfleisch, 2006 Gammelfleisch und Vogelgrippe, 2013 Pferdefleischskandal und 2017 Fipronileier. Doch bei Problemen in einer Wurst- oder Backwarenfabrik droht im Internet-Zeitalter heute schnell die Insolvenz. Zumal freiwillige Nachhaltigkeitsregeln die Handelskonzerne zwingen, sich im Schadensfall zügig vom Lieferanten zu distanzieren.

Der Anstoß, mehr Qualität und Erlebnis zu bieten, kam beim hiesigen Lebensmitteleinzelhandel aus der Nische. Zwar startete der erste Alnatura Biosupermarkt schon 1987, aber erst mit der Gründung von Basic 1997 und Denn‘s 2003 nahm das Biogeschäft Fahrt auf. Die Geburtsstunde des Erlebnis-Shoppings schlug 1996 mit dem ersten Scheck-In-Center in Baden-Württemberg. Bis sich die Idee deutschlandweit durchsetzen konnte, dauerte es noch 15 Jahre: mehr Qualität, mehr Frische, mehr Aufenthaltsqualität. Erfolgsfaktoren, die heute für jede Edeka-, Irma-, Rewe-, Tegut- oder Wasgau-Neueröffnung selbstverständlich sind.

Der Druck zum Trading-up besteht auf breiter Front

Mit den immer größeren und schöneren Verbrauchermärkten gerieten aber die wohnortnahen Supermärkte aus dem Blick, die gleichzeitig durch die Lebensmitteldiscounter, die mit ihren kleinen Sortimenten und Verkaufsflächen ungehindert expandieren konnten, unter Druck standen.Die Zahl der Supermärkte erreichte um 2015 den Tiefpunkt. Zwar hat der Edeka Verbundschon früher als andere – und auch erfolgreich – auf seine von selbstständigen Kaufleuten geführten Supermärkte gesetzt, verstärkt wurde die Renaissance der kleinen Vollsortimenter aber, als auch die Rewe Group in die Aufwertung ihrer Konzepte und Verkaufsflächen investierte – und die Discounter mit ihrem schlichten Konzept Marktanteile verloren.

Renaissance der Städte – kein deutscher Trend

Der Druck zum Trading-up besteht im Lebensmittelhandel heute auf breiter Front. Während Edeka 2010 mit der Aufwertung der Netto-Discount-Märkte begann und die Sparte als führenden Nahversorger in peripheren Landesteilen etablierte, zeigte Rewe 2011 mit ihrem To-Go-Konzept, dass Deutschland reif für den Convenience-Store in Top-Lagen und Bahnhöfen ist. Die Valora-Gruppe professionalisierte 2012 den Bahnhofskiosk und wächst nun ins Snack-Geschäft der Fußgängerzonen und Stadtteilzentren. Seit 2016 wirbt Lidl in runderneuerten Läden damit, Deutschlands beste und beliebteste Obst- und Gemüseabteilung zu bieten. Bis sich das Discounter-Original Aldi zum Trading-up bei Fläche und Angebotsvielfalt entschloss, brauchte es jedoch viele Jahre mit Marktanteilsverlusten und Managerwechsel.

War es vor Corona schwierig, den globalen Trend der Verstädterung zumindest für Deutschland etwas differenzierter zu betrachten, zeigen aktuelle Umfragen unter jungen Leuten, dass es keinen Trend ohne Gegentrend gibt. Die Attraktivität der Großstädte leidet unter den Corona-bedingten Einschränkungen deutlich. Sicherheitsorientierte Menschen wünschen sich das ruhige, kontrollierte Eigenheim, möglichst mit Home-Office und viel Zeit für Familie, Freunde und Netflix.

Da dies in den Ballungsräumen für die meisten kaum noch bezahlbar ist, dehnen sich die Suchradien immer weiter aus und die Baugebiete in den Umlandgemeinden werden immer größer. Und hier wünschen sich die Familiengründer von heute eine Infrastruktur mit Ärzten, Schulen, Lebensmittel- und Drogeriemarkt, Bäckerei, Apotheke, Kindergarten und ein Café im 5- bis 10-Minutenradius.

Wachstumspotenziale für den Lebensmitteleinzelhandel gibt es somit auch noch durch die Schließung von weißen Flecken in Dörfern und Kleinstädten. Während Betreiber für gute Grundstücke in Großstädten zu Kompromissen in Sachen Größe, Grundriss und Logistik bereit sind, wird im Umland auf der „grünen Wiese“ deutlich kostengünstiger gebaut. Dabei kann auf dem Land auch eine weitläufige Kundenansprache, die eine Reihe von Dörfern umfasst, erfolgreich sein. Entscheidend im Lebensmittelhandel ist die Nähe zum Kunden. Das gilt für kleine City-Konzepte und große Regionalversorger gleichermaßen.

Allerdings ist die Lage entscheidend für das bevorzugte „Fortbewegungsmittel“. Während in den Städten angesichts von Staus und Platzmangel immer mehr zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV ihren „Nahversorger besuchen“, nimmt die Bedeutung des Privat-Pkw auf dem Land zu. Die Landbevölkerung steuert am liebsten verkehrs-orientierte Agglomerationen an. Insofern ist die Stadt-Land-Doppelstrategie der Lebensmittelhändler Voraussetzung für eine landesweite Wachstumsstrategie.

Was kann der Bekleidungshandel daraus lernen?

In dem Maße, in dem das Angebot in den Innenstädten und Einkaufszentren immer austauschbarer wurde, ging das Interesse der Kundinnen zurück, hierfür weite Wege zurückzulegen. Der von rückläufigen Frequenzen sowie Umsätzen besonders betroffene Bekleidungseinzelhandel kämpft nun schon seit Jahren mit fortlaufenden Rabattaktionen und Kostensenkungsprogrammen. Die Geschichte des Lebensmitteleinzelhandels zeigt, dass mit Masse und Mittelmaß keine Zuwächse mehr erzielt werden können.

Erst durch Rückbau der Filialnetze, Aufwertung der verbleibenden Läden und Ausrichtung auf die lokalen Bedürfnisse ist eine Bodenbildung zu erwarten. Hinderten die bisherigen internationalen Verflechtungen in der Bekleidungsindustrie noch eine wirksame Umkehr auf nationaler Ebene, so bieten die wachsenden De-Globalisierungstendenzen heute die Chance für eine regionale Neuorientierung im Bekleidungseinzelhandel.

*) Manuel Jahn  ist Head of Business Development bei Habona Invest