Entwicklung der Innenstädte

Steinwüsten schaffen keine Aufenthaltsqualität

Die Leipzig Charta bildet den Rahmen für die europäische Stadt. Foto: Adobe

Die Zwangsschließungen zur Pandemiebekämpfung und ihre Folgen haben aus Sicht von Experten kompromisslos offengelegt, in welchem ernsten Zustand viele deutsche Innenstädte sind. Dabei ist die Pandemie noch nicht vorbei und die Folgen sind noch nicht abschließend abzuschätzen.

„Nach eineinhalb Jahren Pandemie sehen wir, dass unsere Städte nicht funktionieren“, konstatiert Frank Eckardt, Professorfür Architektur, Urbanistik und Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, unverblümt: „Es gab Geisterstädte, aber keine Orte für Entspannung, Sport, Freizeit und Gesundheit, zählte er bei der Tagung des Netzwerks Innenstadt NRW zum Thema „Innenstadt neu (er)finden?“ die Defizite auf.

Und wenn sich die negativen Prognosen bewahrheiten würden, wonach viele Einzelhändler und Dienstleister in der nächsten Zeit verschwinden, dann wird es laut Eckardt schlimm für die Innenstädte, dann hätten sie ein Problem. Aus Sicht von Jörg Lenhard, Citymanager der Stadt Vreden, ist das Ausmaß des Leerstands auch mit Blick auf die Ladeninhaber, die womöglich in den nächsten Jahren aus Altersgründen aufhören, noch gar nicht abzusehen.

Ursache für diese mangelnde Widerstandsfähigkeit deutscher Cities gegen einen „Wandlungsprozess ungeheuren Ausmaßes“, wie er sich derzeit vollzieht, ist nach den Worten von Gregor Moss, Dezernent für Wirtschaft und Stadtentwicklung der Stadt Bielefeld, dass die Städte in den vergangenen Jahren auf Verschleiß gefahren wurden. Auch er kritisiert das Fehlen eines Erlebnisraums in den Cities, der auch dann Leben in die Stadtkerne bringt, wenn die Geschäfte zu sind.

Andreas Reiter, Leiter des ZTB Zukunftsbüros in Wien, diagnostizierte in seinem Vortrag „Disruptive City. Ein neues Betriebssystem für unsere Innenstädte“, in den Stadtzentren einen „Erschöpfungszustand“, derdurch die Pandemie verstärkt wird. Und die Probleme würden in den nächsten Jahren noch massiver werden, weil sich in den Cities analoge und digitale Technologien überlagern würden. Auch auf diesen Wandlungsprozess müssen sich die Kommunen einstellen.

Vor diesem Hintergrund findet Marc Rieser vom interdisziplinären Planungsbüro MUST Städtebau der Stadt Köln, dass sich die Städte und Gemeinden jetzt mit diesen Veränderungen auseinandersetzen sollten, denn mit den alten Strukturen werde der Wandel nicht funktionieren. Die Bedürfnisse haben sich verändert. Die Bürger forderten mehr „Grün“ und mehr Aufenthaltsqualität, ist auch er überzeugt.

Dies lässt sich schon daran ablesen, dass die junge Generation – anders als die älteren Stadtbesucher – nicht fürs Einkaufen in die Stadt geht, wie Andreas Reiter anmerkt. Die Innenstädte brauchen aus seiner Sicht ein neues Narrativ und dabei zieht er den Vergleich mit einer „guten Party“, bei der man nur kurz vorbeischauen wollte und dann aber doch viel länger bleibt. Die Zukunft der Städte macht er an den drei „K‘s“ fest: Kultur, Konsum und Kommunikation. Dabei kann er sich auch „urbane Dörfer“ mitten in der Innenstadt vorstellen.

Bei den Innenstädten geht es nach den Worten der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, Ina Scharrenbach, heute um die „Marktplätze des 21. Jahrhunderts“, die anders als die typische Innenstadt früherer Jahre nicht monokausal sind. „Das ist ein großes Orchester und wenn einer fehlt, dann hört man das“, so die Ministerin.

Innenstädte sind die Marktplätze des 21. Jahrhunderts

Um die Probleme mit den vielen Leerständen in nordrhein-westfälischen Städten zu lösen, braucht es nach ihren Worten „mutige Herzen in der Kommunalpolitik“, auch einmal etwas auszuprobieren, was man noch nie gemacht hat. Entscheidend bei der Weiterentwicklung der Innenstädte sei es, herauszuarbeiten, was die „Einzigartigkeit“ der jeweiligen Stadt sei und sich daran auszurichten und nicht einfach nur erfolgreiche Städte zu kopieren. Mit dem Hinweis, dass es kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem gibt, beklagte die Ministerin in ihrem Vortrag über die Perspektiven für die Innenstädte der Zukunft, dass oft zu viel Zeit für die Diskussionen und zu wenig Zeit für die Entscheidungen aufgebracht werde. Hier gab Robin Denstorff, Vorsitzender des Netzwerks Innenstadt NRW und Stadtbaurat von Münster in der Diskussionsrunde aber zu bedenken, dass die Räte auch Entscheidungen über das Gemeinwohl treffen müssten, das mache es etwas schwieriger.  

Im Juli 2018 hatte das NRW-Ministerium – nicht zuletzt auch mit Blick auf den Wandel durch den Online-Handel – die Landesinitiative „Zukunft. Innenstadt. Nordrhein-Westfalen“ zur Stärkung der Innenstadtentwicklung sowie der Stadt- und Ortskerne ins Leben gerufen. Mit Blick auf die Folgen der Zwangsschließungen zur Pandemiebekämpfung folgte 2020 das mit 70 Mio. Euro an Fördermitteln dotierte „Sofortprogramm zur Stärkung unserer Innenstädte und Zentren“, denn die Innenstädte seien immerhin das Herz der Städte.

Im Rahmen der geplanten Multifunktionalität in den nordrhein-westfälischen Städten soll es neben den maßgeblichen Akteuren (innerstädtischer) Einzelhandel und Gastronomie wieder mehr Wohnen, Kunst, Kultur, öffentliche Einrichtungen wie Kitas, aber auch Handwerker, Dienstleister und Lebensmittelhandel, der in den 1970er- und den 1980er-Jahren auf die grüne Wiese gezogen war, geben. „Dafür brauche ich die mutigen Stadtentwickler“, so Ministerin Scharrenbach, die keinen Zweifel daran hat, dass die Innenstadt von den Bürgern weiterhin geschätzt wird.

Im Rahmen des NRW-Sofortprogramms wurden 2020 schon 40 Mio. Euro an 129 Kommunen ausgezahlt, die die Unterstützung u.a. nutzen, um Leerstand zu bekämpfen und/oder ein Citymanagement aufzubauen. 30 Mio. Euro folgen in diesem Jahr.

„Innenstädte mussten sich schon immer anpassen“, konstatierte Anne Katrin Bohle, Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, in ihrem Vortrag Die neue Leipzig-Charta und die Zukunft der Innenstädte. Nun werde der Prozess durch die Pandemie beschleunigt. Der Dezernent für Stadtentwicklung in Bielefeld, Moss, versteht den Begriff „Innenstadt auch als ein Synonym für Wandel“. Die Innenstädte müssten völlig neu gedacht werden.

Das Leitbild dieser Städte von heute und morgen ist die Leipzig Charta in der Fassung von 2020, die Ende vergangenen November von den für die Stadtentwicklung zuständigen Ministern in der EU verabschiedet wurde. Hier geht es um die „gerechte, die grüne und die produktive Stadt“. Alle sozialen Gruppen sollen bei dieser europäischen Stadt der kurzen Wege, die auch auf klimafreundliche Entwicklung setzt, teilhaben. Hinzu kommt die Digitalisierung als Querschnittsdimension, die unter anderem auch die Kommunikation mit der jungen Generation sicherstellen soll.

Die „Innenstadt“ ist ein Synonym für Wandel

In ihrem Vortrag erinnerte Staatssekretärin Bohle daran, dass das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) im Rahmen seines Ende des vergangenen Jahres aufgelegten Förderprogramms die Kommunen bei der Entwicklung neuer Konzepte zur Stärkung der Resilienz ihrer Innenstädte und zur Krisenbewältigung finanziell unterstützen will. Mehr als die Hälfte der Städtebauförderung fließt hierzulande in die Veränderung der Innenstädte.

Im Rahmen der Diskussionsrunde wies der Netzwerk-Vorsitzender Denstorff darauf hin, dass es bei der Entwicklung der Innenstädte auch sehr wichtig sei, die Bürger mitzunehmen. „Eine gute Bürgerbeteiligung ist sehr wichtig.“ Zumal viele nicht mehr daran glaubten, dass das mit der Bürgerbeteiligung ernst gemeint sei.

Dabei besteht laut Moss eine Schwierigkeit darin, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen, die aber sehr wichtig sind, weil sie „unsere Zukunft sind“. Dafür ist aus seiner Sicht die Digitalisierung von großer Bedeutung. Bei dieser Generation sieht Staatssekretärin Böhle deshalb auch den Ansatz, an die Menschen heranzugehen, die täglich mit Kindern und Jugendlichen umgehen. Schließlich ist der Staat aus ihrer Sicht in der Nachweispflicht, dass er es mit der Bürgerbeteiligung ernst meint.

Zur Diskussion mit der jungen Generation gehört laut Moss aber auch, darauf hinzuweisen, dass diese einerseits zwar für das Klima auf die Straße gehe, gleichzeitig aber auch viel online einkaufe. Für die Innenstädte ist das nicht förderlich.

Genauso wichtig wie die Beteiligung der Bürger ist laut Prof. Eckardt, dass die Kommunen im Rahmen der Innenstadtentwicklung lernen, den öffentlichen, konsumfreien Raum aktiv zu gestalten, etwa mit Sitzgelegenheiten. Denn ein Großteil der Fläche sei funktionslos. Diese Aufgabe werde heute hoch angesetzt, damit es in den Stadtzentren nicht nur kommerzielle Angebote gebe, sondern auch Raum etwa für Senioren oder für Kinder und Jugendliche wie Wasserspielplätze, um sich hier einfach nur aufzuhalten.

Die Bürger müssen mehr beteiligt werden

Vor allem die Steinwüsten, das heißt die dauerhafte Versiegelung der Böden mit Platten und Pflastersteinen in vielen deutschen Innenstädten, um Geld für die Pflege von Grünflächen zu sparen, sind laut Eckardt der Aufenthaltsqualität sehr abträglich. Deshalb müsse wieder eine Diskussion darüber geführt werden, warum der öffentliche Raum so wichtig sei.

Zumal solche Steinwüsten auch Klimafeindlich sind. So verweist Jutta Deffner, vom Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Mainin ihrem Vortrag Städte in der Transformation: Ressourcenschonung im Alltag durch Stadtgrün, multioptionale Mobilität und soziale Teilhabe auf die starke Hitzebelastung in deutschen Innenstädten. Dabei sei der öffentliche Raum das Wohnzimmer der Gesellschaft und der Raum für die Kommunikation.

Um in den Städten durch Begrünung ein angenehmes Klima zu schaffen, muss die Kommune nach ihren Worten die Frage beantworten, wo das Wasser – etwa Regenwasser und Brauchwasser – dafür herkommen soll. Auch der Immobilienbestand sei noch nicht auf das Hitzethema ausgelegt. Bei der Neugestaltung der Innenstädte müsse ein Prozess des Umdenkens angestoßen und Antworten auf die Frage gefunden werden, welche neue Funktionen die Innenstädte heute haben.