New Retail

Kein Einkauf ohne Erlebnis

Supermarkt im Wohngebiet: Kurze Wege für den Alltagseinkauf. Foto: Habona

Zu den Grunderkenntnissen von Marktforschung und Marketing zählt, dass Absatzstrategien umso erfolgreicher sind, je besser sie unbewusste, dauerhafte Bedürfnisse bedienen. Der Konsum des Endverbrauchers unterscheidet sich dabei stark nach dem Motiv des Einkaufs. So erklärt sich, dass derselbe Konsument bei unterschiedlichem Anlass auch ein anderes Konsumverhalten zeigt. Die Polarisierung im Einzelhandel in Formen des versorgungsorientierten Routineeinkaufs einerseits sowie des freizeitorientierten Spaßeinkaufs andererseits ist die Folge.

Das Grundbedürfnis nach Sensationen, Superlativen oder gemeinschaftlichen Aha-Erlebnissen steht im Fokus des Spaß- oder Freizeiteinkaufs. Prestigeträchtige Marken nutzen große Shopping-Center und bekannte Highstreets als Bühne für ihr „Retail-Theater“. Die regelmäßige, meist preissensible Nachfrage nach Alltagsgütern wird besser an verkehrsgünstigen Standorten in Wohnortnähe erfüllt, um auf kurzen Wegen möglichst Zeit zu sparen.

Ob Spaßeinkauf oder Routineeinkauf: Bequemlichkeit und Attraktivität haben sich zu generellen Erfolgsvoraussetzungen im stationären Einzelhandel entwickelt.

Beschränkte sich die Einkaufsattraktivität in früheren Zeiten auf eher klassische Faktoren wie Verfügbarkeit, Sicherheit und Sauberkeit, vielleicht auch noch auf eine ansprechende Gestaltung von Flächen und Gebäuden, musste der Begriff zwischenzeitlich deutlich erweitert werden. Verbraucher sind heute konsumfreudiger, wenn der Einkauf einen immateriellen Zusatznutzen bietet. Zusatznutzen können der Treffpunktcharakter, das Angebot an sozialen und kulturellen Einrichtungen, freies WLAN oder ein Stück Heimatgefühl sein. Standorte mit diesen Qualitäten sind besonders dicht am Alltag der Menschen und können auf Trends und Ansprüche unmittelbar reagieren.

Standorte und Konzepte moderner Lebenswelten reüssieren dort, wo die Menschen bereits sind oder wo sie mit gutem Grund immer einfach und gerne hingelangen. Handelsimmobilien sind umso erfolgreicher, je mehr Gebrauchsoptionen sie bieten. Das Maß ihrer „Konnektivität“ im Verhältnis zur Zeitersparnis den Mehrwert für den Nutzer. Dies gelingt besonders gut an Standorten, die ein vielfältiges Nutzungsprofil aus Wohnen, Arbeit, Bildung, Kultur oder Erholung aufweisen. Vorteilhaft sind deshalb grundsätzlich die Nähe zu anderen zentralen Einrichtungen, die Lage an Knotenpunkten starker Verkehrsträger, die Bündelung von Aktivitäten an einem Ort oder die gezielte Entwicklung von Standortgemeinschaften rund um Kernangebote des täglichen Bedarfs.

Seit das Smartphone zum ständigen Begleiter aller Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und Soziostile geworden ist, wird der physische Standort allerdings von einer digitalen Welt überlagert, die Kaufentscheidungen ganz wesentlich beeinflusst. Lange Zeit wurde das Internet mehr als Wettbewerber denn als Opportunität des stationären Einzelhandels angesehen. Mittlerweile ist es anerkannter Stand der Forschung, dass Pure-Onlineshops ebenso wenig die Kundenwünsche treffen wie Pure-Offline-Shops. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass Kunden nicht in Kanälen denken und handeln, sondern in erlebten, echten Vorteilen wie Schnelligkeit, Komfort, Preiswürdigkeit – unabhängig vom Kanal.

Kunden denken in echten Vorteilen

Wenn mehrere Vertriebskanäle nicht nur gleichzeitig genutzt werden, sondern zwischen ihnen eine inhalts- und datenseitige Konsistenz hergestellt wird, handelt es sich um ein Omnichanneling-Konzept. Anders als beim simplen Multichanneling bedeutet dies, dass die auf einem Kanal gespeicherten Daten und Einstellungen eines Kunden im Interesse des Vertriebserfolges auch für alle anderen Kanälen genutzt werden.

Einzelhandelskonzepte sind heute weder auf einen eng begrenzten Raum noch an eine Zielgruppe oder eine bestimmte Leistung gebunden. In einer intelligent gewählten Kombination aus physischen und nicht-physischen Kontaktpunkten können Konzepte heute jede beliebige Vor- und Nachstufe der ursprünglichen Kernkompetenz besetzen. Damit kann ein begrenzt kontrollierter Streckenabschnitt der Customer Journey so weit verlängert werden, bis sich der Kreis schließt.

Während der Kauf eines Produktes im Onlineshop oder im Laden lediglich einen kleinen linearen Abschnitt des Konsums ausmacht, der zudem noch äußerst wettbewerbsanfällig ist, ist die Erweiterung oder Hinwendung zu den immateriellen vor- und nachgelagerten Wertschöpfungspotenzialen der Schlüssel für nachhaltigen Erfolg in der Zukunft. Erst mit der vollständigen Ablösung des linearen Konsums durch die Nachfrage nach zirkulären Dienstleistungen – New Retail – ist der Transformationsprozess im Handel abgeschlossen.

Omnichanneling sowie Pre- und Aftersales-Support stellen elementare Voraussetzungen für ein neues Vertriebs- und Marketingkonzept dar, das den Ursprung der Wertschöpfungskette beim Kunden hat. Während bei der Produktzentrierung das meist schon langjährig bestehende Produkt Ausgangspunkt aller Vertriebsüberlegungen ist, bilden bei der Kundenzentrierung die Ansprüche und Erwartungshaltungen des Verbrauchers die Basis des Geschäftsmodells. Die Expertise des Handels ist dafür mehr denn je gefragt, um die Kaufbereitschaft zu steigern. Dabei hängt das wahrgenommene Erlebnis auch vom reibungslosen Ineinandergreifen von digitaler und physischer Präsenz ab.

Anhand einer Vielzahl von Kontaktpunkten wird der Informationsfluss zwischen Kunden und Händler sichergestellt und so die Grundlage für eine Steigerung von Kundenerlebnis einerseits und Rentabilität andererseits geschaffen. Die Zukunft im Handel liegt also in der Beantwortung der Frage: Wer kann am besten Konsumentenwünsche erfüllen – möglichst noch bevor diese dem Konsumenten bewusst werden. Erst danach stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln dies erreicht werden kann.

Die Erfolgsfaktoren von New-Retail-Konzepten überlassen nichts dem Zufall. Dabei kommt dem stationären Ladenlokal eine besondere Bedeutung zu. Angesichts der hohen Kosten für Standort und Immobilie ist der Laden kein Nice-to-have, sondern elementarer Bestandteil des Vertriebskonzeptes. Food und Fashion bedienen dabei die beiden äußersten Pole der Bedarfsdeckung: Versorgung auf der einen, Vergnügen auf der anderen Seite. Trotz aller Unterschiede weisen die erfolgreichsten ihrer Zunft eine große Gemeinsamkeit auf: Und zwar adressieren beide die Erlebniskomponente, mit der ein stationärer Einkauf erst vom notwendigen „Lasteinkauf“ zum gefälligen „Lusteinkauf“ wird.

Keine Notsituation bei Bekleidung und Lebensmitteln

Sowohl in Bezug auf Kleidung als auch auf Ernährung besteht in den westlichen entwickelten Ländern keine Notsituation, die einen Einkauf als zwingend und notwendig erscheinen ließe. Vielmehr besteht in der Regel ein im Wettbewerb stehendes Überangebot, bei dem die Art und Weise der Präsentation über den Einkauf entscheidet. Und so verwundert es wenig, dass moderne und erfolgreiche Ladenkonzepte durch die Emotionalisierung des Einkaufserlebnisses hervortreten und sich im Wettbewerb durchsetzen.

Dabei stellt sich die Frage, was ein Einkaufserlebnis ist? Die emotionale Adressierung des Kunden erfolgt über alle Sinne: Optisches und akustisches Design, persönliche Ansprache – oder den Preis. Wie unterschiedlich die Reize heute gesetzt werden, demonstrieren die beiden Extreme Luxus und Discount sehr anschaulich:

1.) Marken-Flaggschiffe und Gourmet-Tempel: Eingebettet in eine komplexe Omnichannel-Strategie sind erfolgreiche Läden von starken Herstellermarken oder namhaften Distributoren mit vielerlei Erlebnisfaktoren ausgestattet. Einzigartig und spektakulär entwickeln diese Ladenkonzepte Destinationscharakter, für die Menschen bereit sind, auch lange Anfahrtswege zurückzulegen. Einer spitz positionierten „Brand Experience“ wird das Service-, das Personal- und das Designkonzept des Ladens unterworfen. Bei dem dabei zu sein, was Stadtgespräch ist, hat eine starke emotionale Komponente. Sich einer Community zugehörig zu fühlen ebenso. Genau diese Trigger sollen in diesen Räumen zelebriert werden. Die höchste Emotionalisierungsstufe wird im Showroom erreicht, in dem der physische Verkauf von Ware in den Hintergrund rückt und die Architektur zur Markenbotschafterin in den sozialen Medien wird.

2.) Überraschungspartys in Kleinpreisparadiesen: Geld und Zeit können sehr starke Emotionen wecken, insbesondere, wenn die Möglichkeit des Einsparens in Aussicht gestellt wird. Der – vielfach beklagte – Verlust der Mitte im deutschen Einzelhandel ist das Ergebnis wachsender Polarisierung der Nachfrage nach Angeboten, die ein klares Kundenversprechen abgeben. Dabei haben unklare, also eher mittig positionierte Geschäftskonzepte an diejenigen verloren, die bei mindestens einem Angebotsmerkmal deutlich überlegen sind. Bei insgesamt ähnlich empfundener Produktqualität schlägt das günstigere Angebot somit das teurere und das bequemere Angebot das weniger bequeme. So haben Modefachgeschäfte an Mode-Discounter verloren, Warenhäuser an Nonfood-Discounter.

*) Bei dem Artikel handelt es sich um einen Auszug aus dem Habona-Report 2025