EuGH-Urteil Visser/Appingedam

Gibt es künftig nur noch ein Baurecht auf Zeit?

rv DÜSSELDORF. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2018 im niederländischen Fall „Visser/Appingedam“ ist für die restriktive deutsche Planungspraxis und die planerische Steuerung des Einzelhandel zweifellos eine Zäsur. Deshalb befasste sich auch der After Work Talk mit dem Titel „Kommunale Steuerung des Einzelhandels unter der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie“ von Lademann & Partner sowie der Kanzlei GSK Stockmann im Main Building in Frankfurt mit den Folgen der Entscheidung.

Zum After Work Talk über die Dienstleistungsrichtlinie und die Auswirkungen des EuGH-UrteilsVisser / Appingedam für die künftige Steuerung des Einzelhandels in Deutschland fanden sich Anfang November hochrangige Vertreter aus Handel und Handelsimmobilienwirtschaft ein. Denn die Entscheidung der europäischen Richter, wonach Einzelhandel als Dienstleistung eingestuft wird, die der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie unterliegt, verändert die Planungspraxis grundlegend und setzt den Kommunen künftig Grenzen.

So nimmt der EuGH die „planenden Gemeinden“ und andere „Planungsträger“ in die Pflicht, die praktische Wirksamkeit der Beschränkung von Einzelhandelsnutzungen und ihre Erforderlichkeit zur Erreichung der verfolgten Gemeinwohlziele einschließlich ihrer Verhältnismäßigkeit nachzuweisen. Die Kommune müssen demnach künftig nachweisen, warum restriktive Regelungen in Bebauungsplänen aufrechterhalten werden müssen. Kurz gesagt: Die Kommune müssen belegen, dass ihre Beschränkung mit Blick auf der Ziele auch sinnvoll sind. Das könnte etwa die Revitalisierung von Fachmarktzentren und die Nachvermietung von Flächen künftig erleichtern.

Die Diskussion im Anschluss an die Vorträge erbrachte unter anderem die Erkenntnis, dass dieses EuGH-Urteil insbesondere ehrgeizigen Kommunen entgegen kommt, die, wie Uwe Seidel, geschäftsführender Gesellschafter von Lademann & Partner, berichtet, „ihre Innenstadt weiter entwickeln wollen und gezielt innerstädtische Flächenpotenziale nutzen möchten“. Er rechnet mit einer Welle von Fortschreibungen der kommunalen Einzelhandelskonzepte, „weil nahezu alle derzeit gültigen Einzelhandelskonzepte im Lichte des Urteils fehlerhaft und angreifbar sind“.

Zum Hintergrund: Viele Bebauungspläne für Fachmärkte und großflächigen Einzelhandel sind über zehn Jahre alt, was die Frage aufwirft, ob der damals durch die Festsetzung im Bebauungsplan beabsichtigte Schutz der zentralen Versorgungsbereiche noch notwendig oder überhaupt noch relevant ist? „Denn typischerweise schlagen sich ökonomische und städtebauliche Auswirkungen von neuen Fachmarktzentren in den ersten Jahren nach Realisierung nieder“, erläutert Seidel, „nach drei bis fünf Jahren hat sich ein neues Gleichgewicht im Markt eingestellt“.

Folge der EuGH-Entscheidung ist aus Sicht des Experten, dass die „Ausweisung zentraler Versorgungsbereiche in den kommunalen Zentren-Konzepten künftig grundsätzlich großzügiger erfolgen werden, das heißt, Potenzial-Flächen zur Fortentwicklung der Zentren müssen zwingend ausgewiesen werden“. Des Weiteren lautet das Motto für künftige Bebauungspläne aus Sicht der Diskussionsrunde, dass „weniger mehr ist“. Es würden in Zukunft nur noch die schriftlichen Festsetzungen vor Gericht halten, die städtebaulich zwingend erforderlich und verhältnismäßig seien. Die Konsequenz: „Die Anforderungen an die Begründung differenzierter Verkaufsflächen-Festsetzungen werden steigen“, erwartet Seidel.

Mehr Recht für Bestandshalter

Mehr Rechte bringt die Gerichtsentscheidung nach Erkenntnis der Diskussionsrunde für Bestandshalter durch die Beweislastumkehr, die besagt, dass die Kommunen gegenüber den Privaten rechtfertigen müssen, warum genau die jeweils getroffenen Festsetzungen in den B-Plänen notwendig sind, um das städtebaulicher Ziele zu erreichen. Denn in Zukunft, so die Experten, können die Bestandshalter gezielt hinterfragen, ob und in welchem Maße bestimmte Festsetzungen notwendig und mit Blick auf den Zeitablauf immer noch erforderlich sind. Wie Seidel von der Veranstaltung berichtet, können die Bestandshalter damit wesentlich selbstbestimmter eigene Refurbishment-Projekte vorantreiben und die eigenen Bebauungspläne infrage stellen.

Die Folge des EuGH-Urteils wird aus Sicht der Teilnehmer hierzulande ein „Baurecht auf Zeit“ sein, da die Auswirkungen von Neuansiedlungen oder Erweiterungen spätestens nach drei bis fünf Jahren im Markt absorbiert seien. Deshalb werde es kein Baurecht mehr für die Ewigkeit geben. Nach etwa fünf Jahren werde es dann möglich sein, zu hinterfragen, ob die Festsetzungen bei der Verkaufsfläche tatsächlich noch erforderlich sind oder ob die Festlegungen nicht über eine Bebauungsplanänderung angepasst werden können. „Dafür wird es künftig ein Monitorring von Bebauungsplänen geben, das erfahrene Gutachter begleiten“, berichtet Seidel aus der Runde.

„Hochinteressant ist das Urteil nach Aussage aller Teilnehmer vor allem für Refurbishments, bei denen eine Lockerung von Festsetzungen in Bebauungsplänen zwingend notwendig ist, um nachhaltige Folge-Lösungen, wie im Zusammenhang mit der Nachnutzung von ehemaligen Real-Standorten, zu ermöglichen“, so der Geschäftsführer. Die Teilnehmer erwarten in den nächsten Monaten weitere Erkenntnisfortschritte durch Musterprozesse. Bislang gibt es noch keine vorzeigbaren Musterfälle auf Basis des EuGH-Urteils. Diese werden 2020 erwartet. GSK Stockmann sowie Lademann & Partner versicherten mit Nachdruck, dass sie das Thema vorantreiben wollen.