rv DÜSSELDORF. Gefühlt waren in der diesjährigen Urlaubssaison so viele Menschen zu fernen Zielen aufgebrochen, wie selten zuvor, so dass sich viele Einheimische genötigt sahen, gegen diese Touristenflut auf die Straße zu gehen. Wer eine Antwort auf die Frage nach dem Warum für diese ungebremste Reiselust sucht, der muss sich die Zahlen über die privaten Ausgaben der Europäer im Einzelhandel anschauen. Denn der Anteil des privaten Konsums, der in den europäischen Einzelhandel fließt, ist 2023 im Schnitt um 0,5% auf 33,9% gesunken. Und er dürfte 2024 noch weiter sinken.
Das heißt im Umkehrschluss, dass der Einzelhandelsanteil an den privaten Konsumausgaben in den beiden Corona-Jahren 2020 und 2021, als Reisen unmöglich waren und auch alle anderen Formen der Freizeitgestaltung wie Gastronomie-Besuche, Veranstaltungen, Kongresse und vieles mehr untersagt waren, gestiegen ist – auch wenn die Ausgaben mit Blick auf die einzelnen Branchen und die hier herrschenden Restriktionen sehr ungleich verteilt waren.
Denn den Europäern blieb nicht viel mehr als der enge Radius des Einzelhandels, um ihr Geld auszugeben. Bekanntlich suchten viele Konsumenten in ihrer Freizeit die Heimwerkermärkte auf, die beispielsweise in Deutschland in der ersten Phase des Shutdowns genauso offenbleiben durften wie der Lebensmittelhandel. Durch vermehrtes Homeoffice und den erzwungenen Aufenthalt vornehmlich in den eigenen vier Wänden haben viele aus der Not eine Tugend gemacht und angefangen zu renovieren und sich neu einzurichten. Die entsprechenden Händler der Einrichtungsbranche und der Bau- und Garten-Center verzeichneten exorbitante Wachstumsraten – genauso wie der Online-Handel, der mehr neue Kunden gewinnen konnte.
Mit dem Abflauen der Pandemie und der Rückkehr zur Normalität geben die Konsumenten ganz offenbar wieder deutlich mehr Geld für Reisen und Freizeit und weniger im Handel aus, so dass sich die Verhältnisse wieder verschoben haben. Insgesamt standen den Europäern im Jahr 2023 etwa 8,9 Billionen Euro an Kaufkraft zur Verfügung, die sie für Essen, Wohnen, Dienstleistungen, Energiekosten, private Altersvorsorge, Versicherungen, Urlaub und Mobilität ausgeben können, wie es in der Studie „Einzelhandel in Europa“ heißt, die der Bereich Geomarketing der GfKNIQ auch in diesem Jahr wieder auf den Markt gebracht hat. Damit betrug die EU-weite Pro-Kopf-Kaufkraft durchschnittlich 19 786 Euro und lag damit nominal um 5,5% über dem Vorjahresniveau.
Europäer geben mehr Geld für die Freizeit aus
Nach den Worten von Studienleiter Philipp Willroth kehrt sich der Effekt, dass die europäische Bevölkerung vor allem in den Corona-Jahren 2020 und 2021 ihr Geld hauptsächlich in den Einzelhandel investiert hat, nun wieder um, „denn die Europäer haben Nachholbedarf und wollen wieder mehr erleben und reisen.“ Und obwohl die Preise für Lebensmittel – und andere Güter – im Jahr 2023 gestiegen sind, die Bürger für ihren täglichen Bedarf also mehr Geld ausgeben müssen, um die gleiche Menge zu kaufen, nähert sich der Ausgabenanteil der Haushalte im Einzelhandel nach seinen Worten wieder dem niedrigeren Wert von vor der Pandemie an. Die Anpassung nach unten war also erheblich. Nun fließt wieder mehr Geld in Freizeitaktivitäten, Dienstleistungen und eben den Urlaub.
Das heißt allerdings nicht, dass sich der Anteil der privaten Ausgaben, der in den Einzelhandel fließt, in den verschiedenen EU-Ländern angeglichen hätte. Denn je nach Höhe der durchschnittlichen Einkommen (und den Kaufgewohnheiten) geben die Bürger der jeweiligen EU-Länder unterschiedlich viel Geld im Einzelhandel aus. Bei niedrigen Einkommen müssen sie einen viel größeren Teil ihres Gehalts für die Deckung des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und die Grundversorgung wie Bekleidung und vieles mehr ausgeben.
Auf die höchste Quote kommt laut GfK-Studie Ungarn mit 50%, vor Bulgarien mit 49% und Kroatien mit 47%. In dieser Rangliste belegt Deutschland mit einem Anteil von 27% der privaten Ausgaben für Güter des Einzelhandels den letzten Platz. Das dürfte allerdings auch daran liegen, dass die Deutschen sehr preisbewusst sind und weniger Geld beispielsweise für Lebensmittel oder Bekleidung ausgeben als Menschen in anderen EU-Ländern.
In Frankreich etwa, das für seine gute Küche bekannt ist, liegt der Anteil der Einzelhandelsausgaben bei 39%, in Schweden bei 40%, in Spanien bei 37% und in Belgien bei 36%. Im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern sind in Westeuropa zudem die Lebenshaltungskosten höher und es wird mehr Geld für Dienstleistungen, Freizeit, andere materielle Güter, Ersparnisse und Geldanlagen ausgeben.
Die Inflation hinterlässt Spuren
Trotz des rückläufigen Ausgabenanteils der Europäer im Einzelhandel ist der Branchenumsatz in den 27 EU-Ländern laut GfK mit nominal 5,5% um die gleiche Rate gestiegen wie die Kaufkraft der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Doch muss diese Entwicklung vor dem Hintergrund der im Vorjahr hohen Verbraucherpreise gerade für die Güter des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Drogerieartikel relativiert werden. Denn bei einer Inflationsrate von durchschnittlich 6,4% im vergangenen Jahr wurden die Kaufkraftgewinne wieder kompensiert, sodass der Einzelhandel unter dem Strich laut Studie reale Umsatzverluste hinnehmen musste. Um die gleiche Menge wie in den Vor-Inflationszeiten zu erwerben, mussten die Kunden deutlich mehr Geld ausgeben. Für 2024 wird eine Inflationsrate von 2,7% erwartet. Dadurch könnte sich die Lage etwas entspannen.
Verlässt man den Durchschnittsmodus sind allerdings auch Länder zu identifizieren, die beim Einzelhandelsumsatz zweistellige Wachstumsraten aufweisen. Dazu gehören die osteuropäischen Länder mit einer sehr hohen Konsumquote, die ihr Geld weniger für Reisen und Freizeit ausgeben. Das gilt etwa für Bulgarien mit 18% sowie Rumänien und Kroatien mit jeweils 14% und Polen mit gut 12%. Aus dem Rahmen fällt das westeuropäische Spanien mit gleichfalls gut 12%.
Insgesamt wird das Kaufverhalten der Europäer – trotz beachtlichem Kaufkraftwachstum – angesichts der vielen Krisen und Kriege von Kaufzurückhaltung und veränderten Kaufgewohnheiten geprägt. „Eine häufige Sparmaßnahme ist der Kauf von Handelsmarken, was jedoch in den kaufkraftstärkeren Ländern verbreiteter ist als in den osteuropäischen Ländern“, heißt es in der NIQ-GfK-Studie. Das gilt vor allem für Länder wie Spanien, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und auch für Deutschland. Hier liegt der Anteil der Eigenmarken-Käufe beispielsweise bei Lebensmitteln und Drogerieartikeln bei durchschnittlich gut 40%. An der Spitze steht Spanien mit 47%.