Unter dem plakativen Titel „Nahversorger in der Innenstadt – Fluch oder Segen?“ setzte sich der ECC Web Talk mit einem top-aktuellen Thema auseinander. Denn im Gegensatz zum innerstädtischen Nonfood-Handel ist der Lebensmittelhandel recht gut durch die Krisen gekommen, ist als Versorger mit dem Lebensnotwendigen widerstandsfähig und ist auch ein guter Frequenzbringer. Ist er aber die Lösung für die Innenstädte, die darunter leiden, dass etwa der Mode-Handel extrem unter den Corona-Maßnahmen gelitten hat und nach vielen Filialschließungen das Angebot ausgedünnt ist?
Blickt man zurück auf die 1950er- bis in die 1970er-Jahre hinein, gehörten große Lebensmittel-Supermärkte von HL, Rewe, Edeka oder Tengelmann sowie der Lebensmitteldiscounter Aldi zu den Mietern in den innerstädtischen Einkaufslagen. Einzelhandel fand im Stadtzentrum statt. Wo sonst? Mit dem wachsenden Wohlstand wurden die Sortimente und damit auch die Ansprüche der Kunden immer größer, so dass die innerstädtischen Flächen zu klein und zu teuer wurden.
Mit der gleichzeitig wachsenden Automobilität zog der Lebensmitteleinzelhandel nach US-Vorbild an die Peripherie der Städte oder gleich auf die grüne Wiese. Immerhin war inzwischen eine Verkaufsfläche von 3 000 qm notwendig, um ein komplettes Lebensmittel-Sortiment anbieten zu können, wie das die damals stark wachsenden SB-Warenhäuser taten.
Später verließen auch die Discounter die innerstädtischen Lagen, um auf mehr Fläche auch größere Sortimente anbieten zu können. Der Wettbewerb im oligopolistisch geprägten deutschen Lebensmitteleinzelhandel ist hart und gilt als der härteste weltweit. Zudem können die Kunden an Autostandorten größere Mengen transportieren.
Gleichzeitig erreichten in den besten City-Lagen die innerstädtischen Mieten immer neue Rekordwerte. Denn auch die Nonfood-Sortimente wuchsen stark und der filialisierte Einzelhandel bot sich einen harten Wettbewerb um die besten Lagen, die bekanntlich über den Geschäftserfolg entscheiden. Für den Lebensmittelhandel mit seinem großen Flächenbedarf und seinen auf Grund des harten Preiswettbewerbs knapp kalkulierten Umsatzrenditen sind sie in der Regel zu hoch, was die Rückkehr der Branche in die Einkaufsmeilen der Großstädte erschwert hat.
In den 2000er-Jahren – im Zuge der Re-Urbanisierung – stellten große Lebensmittelhändler wie Rewe allerdings fest, dass sie besonders viele weiße Flecken in den deutschen Ballungszentren hatten. Überhaupt ließ die Nahversorgung hier sehr zu wünschen übrig, während vor allem die Mittelstädte gut aufgestellt waren. So gab Jörg Lehnerdt, Regionalleiter West bei der BBE Handelsberatung Köln, beim ECC Web Talk an die Adresse der Immobilieneigentümer gerichtet zu bedenken, dass der Lebensmittelhandel in den Innenstädten nicht die gleichen Mieten zahlen kann, wie die Filialisten aus dem Nonfood-Handel, die sie bei der Umnutzung von innerstädtischen Handelsimmobilien wie etwa Warenhäusern, ersetzen sollen.
Sehnsucht nach mehr Funktionalität
Mit der seit längerem sinkenden Frequenz in den Top-Einkaufslagen, die von Einzelhändlern immer wieder in den Umfragen des Handelsverbands Deutschland (HDE) beklagt wird, und der Erkenntnis, dass die Kunden an die Innenstädte mehr Ansprüche stellen, als hier nur einzukaufen – das können sie auch im Online-Shop – wächst hierzulande wieder die Sehnsucht nach mehr Multifunktionalität in den Innenstädten. Zumal in den vergangenen Dekaden die Großstädte als Wohnorte wieder attraktiver geworden sind – Stichwort: Re-Urbanisierung.
So zeigt die Studie „Vitale Innenstädte“ des IFH Köln, dass für 43% der rund 68 600 befragten Innenstadtbesucher das Angebot von Geschäften zum Einkaufen und zum Bummeln unbedingt vorhanden sein muss und womöglich noch ausgebaut werden sollte. Noch größer war mit 45% aber die Gruppe, für die die City unbedingt ein Ort sein sollte, an dem man verweilen und Freunde treffen kann, wie Markus Preißner, wissenschaftlicher Leiter beim IFH Köln, im Rahmen des ECC Web Talks darlegte. Dass Stadtbesucher dabei aber nicht nur an ein Treffen in der Gastronomie oder in der Außengastronomie denken, ist daran abzulesen, dass mit 35% respektive 36% weniger Innenstadtbesucher beide innerstädtische Angebote für unbedingt wichtig halten. Auch Kunst, Kultur und Unterhaltung ist „nur“ für 36% unbedingt erforderlich. Das spricht also für konsumfreie Aufenthaltsräume in der Innenstadt, wobei hier vor allem Sitzgelegenheiten wichtig sind. Laut IFH-Umfrage ist für 20% einfach nur Verweilen und Sightseeing wichtig.
Die vor allem nach dem Frequenzverlust durch die Zwangsschließungen zur Coronabekämpfung diskutierte Frage, ob die City-Lagen vor allem durch die Rückkehr von Lebensmittelhandel und Drogeriemärkten in die Einkaufsmeilen wieder mehr an Attraktivität gewinnen können, lässt sich leicht anhand der Antworten einer IFH-Studie beantworten. Laut Preißner vergaben die Befragten bei der Beschreibung der idealen Innenstadt mit 28 die meisten von 100 Punkten für Shopping und Einkaufen. Für den alltäglichen Einkauf – sprich: Lebensmittelkauf – vergaben sie dagegen mit 19 neun Punkte weniger.
Gleichzeitig entfaltet das Angebot an Bekleidung mit 23,2% laut Preißner für den Stadtbesuch die höchste Anziehungskraft, vor Schuhen und Lederwaren (17,5%), Uhren und Schmuck (10,1%), Wohnen/Einrichten/Dekoartikel (9,6%) und Consumer Electronics (9,5%). Auf den Lebensmittelkauf entfielen dagegen nur 5%. Aus Sicht der befragten Innenstadtbesucher sind vor allem die Branchen Bekleidung, Schuhe und Lederwaren wichtig, während Angebote wie Lebensmittel, Bücher und Drogeriewaren eher den Rang einer „Basisanforderung“ haben, fasst Preißner zusammen.
Lebensmittel erfüllen die Basisanforderungen
Kurz gesagt: Man kommt deshalb nicht extra in die Innenstadt, man erwartet aber, dass die Angebote vorhanden sind und man sich bei Bedarf damit eindecken kann. Das ist auch der Grund, weshalb die innerstädtischen Warenhäuser an ihren Lebensmittelabteilungen im Souterrain festhalten, obwohl sie nicht unbedingt gewinnbringend sind. Sie stabilisieren aber die Frequenz für die anderen Sortimente.
Anziehungskraft für die Innenstadt kann der Lebensmittelhandel aber dann entfalten, wenn er mit besonderen Konzepten aufwarten kann, wie Markthallen, die 28% unbedingt haben möchten und für 35% eine wunderbare Besonderheit wären. Sie kommen vor allem bei den Älteren (60- bis 69 Jahre) an. Hier werden laut Lehnerdt aber oft Fehler bei der Auswahl der Standorte gemacht. Es muss sich um traditionelle Standorte handeln und das Angebot muss auch groß genug sein, um genug Zugkraft zu entfalten.
Auch ein urbaner Hofladen sollte für 24% unbedingt angesiedelt werden und 37% würden ihn wunderbar finden. Unverpackt Läden wollen 28% unbedingt und 32% fänden ihn wunderbar. Vegane oder vegetarische Shops kommen laut Preißner vor allem bei den 18- bis 24-Jährigen (60%) gut an. Deshalb ist es aus Sicht des Experten bei der Ansiedlung von Nahversorgungs-Konzepten wichtig, genau auf die eigene Besucherstruktur zu schauen.
Grundsätzlich merkte Jörg Lehnerdt beim Web Talk an, dass die Nahversorgung mit Blick auf die Basisanforderung grundsätzlich eine Bereicherung für jede Innenstadt ist. Das gelte im Grunde für jede Stadtgröße. Dennoch zeigt der genauere Blick auf den Flächenanteil von Lebensmitteln, dass es erhebliche Unterschiede gibt. So liegt der Flächenanteil in den Cities der deutschen Großstädte im Schnitt bei 10%, während der Modehandel mit 48% deutlich dominiert.
Im Zentrum der Mittelstädte hat die Nahversorgung mit durchschnittlich 35% – genauso hoch wie der Mode-Anteil – schon deutlich mehr Gewicht und kann hier auch als Frequenzbringer fungieren. Zumal viele Mittelstädte auch Versorgungsfunktion für das Umland haben. Für Shopping-Center ermittelte die BBE einen durchschnittlichen Flächenanteil von 19%, für Fachmarktzentren sind es schon 43% und Nahversorgungszentren erreichen mit 65% naturgemäß den höchsten Wert.
Markthallen kommen vor allem bei Älteren gut an
„In der Großstadt die richtige Flächengröße zu finden ist recht schwierig“, erklärt Lehnerdt den relativ geringen Flächenanteil. Oft funktioniere es in gut erreichbaren Untergeschossen. Aber auch die Miete müsse bezahlbar sein. Es gibt in der City laut Lehnerdt zwar eine hohe Frequenz, aber eher kleine Bons – Stichwort: Transportproblem – nur ein kleines Kerneinzugsgebiet und lange Öffnungszeiten. Hinzu kommt, dass der Wettbewerb unter den Unternehmen um die seltenen Standorte sehr groß ist.
So konzentriert sich der Lebensmittelhandel in den Großstädten mehr in den Stadtteilzentren und Nebenzentren, wo eher Flächen verfügbar und die Mieten niedriger sind. In den 1A-Lagen sind die Nahversorger eher mit Frische- und Convenience-Angeboten zum direkten Verzehr präsent wie Rewe to go oder Fresh Food, weniger mit Produkten für die Grundversorgung. Aber auch internationale Anbieter wie Go Asia, der sich etwa im Souterrain vieler Galeria-Warenhäuser eingemietet hat, beleben die Innenstadt-Lagen.
Eine Ausnahme für einen großen Vollsortimenter bildet laut Lehnerdt in der Innenstadt von Düsseldorf das Crown in einem ehemaligen Warenhaus an der Berliner Allee. Hier gibt es im Erdgeschoss viele Gastronomie-Angebote und im Untergeschoss ein riesiges Lebensmittelangebot. Das funktioniert laut Lehnerdt aber nur in einer Metropole. Zudem fungiert hier auch der Name des bekannten Edeka-Lebensmittelhändlers „Zurheide“ als Magnet.
Als weitere innerstädtische Nahversorgungs-Attraktion bietet Düsseldorf mit dem Carlsplatz in der Altstadt einen dauerhaften Wochenmarkt mit einem abwechslungsreichen Angebot und Gastronomie. Große Anziehungskraft entfalten in innerstädtischen Einkaufslagen lebendige Wochenmärkte. Der BBE-Regionalleiter spricht hier vom Trend „Back to the Roots“. Ein Positivbeispiel ist für ihn Trier. Voraussetzung ist allerdings, dass dafür eine große Fläche in der Innenstadt vorhanden ist und die richtigen Anbieter in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen.