Kommunale Einzelhandelskonzepte sind Konzepte im Bereich des Städtebaus und der Raumordnung, in denen planerisch festgehalten ist, nach welchen Vorgaben und Zielsetzungen sich der Einzelhandel in einem geographischen Raum entwickeln soll. Bei allen diesen Konzepten liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den innerstädtischen Einkaufslagen und sie sind von dem Ziel getragen, die Einzelhandelsfunktion der zentralen Geschäftslagen zu stärken – und möglichst negative Auswirkungen durch Handelsansiedlungen an dezentralen Lagen zu vermeiden.
Es handelt sich bei den kommunalen Einzelhandelskonzepten um ein planerisches Steuerungsinstrument. Diese Konzepte sind den sog. „informellen“ städtebaulichen Planungen zuzuordnen und stehen somit neben den „förmlichen“ Bauleitplänen (Flächennutzungsplan, Bebauungspläne). Sie haben denselben rechtlichen Status wie kommunale Konzepte zur Verkehrsentwicklung, zur Gewerbeansiedlung oder zum Wohnungsbau.
Damit sind die Vorgaben und Zielaussagen – einmal vom Stadt- oder Gemeinderat beschlossen – zwar nicht unüberwindlich, aber meist orientiert sich die kommunale Planung bei Genehmigungsverfahren zur Neuansiedlung oder Erweiterung von Handelsbetrieben doch stark an dem jeweiligen Konzept, vor allem an dessen Festlegung von zentralen Versorgungsbereichen und der Sortimentseinteilung in zentren- und nicht-zentrenrelevante Warengruppen. Zwischenzeitlich dürfte fast jede Stadt oder Gemeinde in Deutschland über ein solches Einzelhandelskonzept verfügen.
Ob kommunales oder regionales Einzelhandelskonzept, alle sind getragen vom Gedanken der Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen. Das gilt genauso für die überörtliche Planung, sei es die Region oder die Ebene des Bundeslandes. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gilt als zentrale Leitvorstellung der Raumordnung. Mit dem hierarchischen System der zentralen Orte und den diesen zugewiesenen, abgestuften Versorgungsfunktionen gerade auch für Einzelhandelswaren sollen die gleichwertigen Lebensverhältnisse so gut wie irgend möglich erreicht werden.
Dahinter steht der klassische Gedanke an einen physischen Marktplatz, auf dem Angebot und Nachfrage zusammentreffen und auf dem der Handel mit den entsprechenden Waren stattfindet. Durch räumliche Steuerung sollen diese Marktplätze entwickelt, stabilisiert und erhalten werden. Wie das im Einzelnen erfolgen soll, regelt das Einzelhandelskonzept. So weit, so gut!
Allerdings trifft dieser Marktplatzgedanke auf eine Realität, die von einer fortschreitenden Digitalisierung geprägt ist. Die Verbraucher haben – egal ob sie in einer Großstadt oder einem Bergdorf leben – über das Internet die Möglichkeit, sich über ein Warenangebot zu informieren und darauf zuzugreifen, das in dieser Breite und Tiefe nicht einmal in London oder New York erhältlich ist. Das Online-Shopping ist hinsichtlich der Auswahlvielfalt unschlagbar, aber auch hinsichtlich der Möglichkeit und Geschwindigkeit, sich einen möglichst umfassenden Überblick über das Angebot zu verschaffen. Und auch beim Preisniveau.
Die Bedeutung der Ware an sich ist für den Kunden gesunken
Es kommen weitere Stärken hinzu: Die Beratungsintensität gewinnt nicht nur durch übersichtliche Auflistungen, sondern auch durch eine Vielzahl von Kundenbewertungen. Auch hinsichtlich der Transaktionskosten scheint der Online-Handel nahezu unschlagbar. Der Käufer muss nicht mehr in die Innenstadt oder zu anderen Einkaufslagen fahren, die Ware wird geliefert. Bestellen ist auch sonntags oder nachts möglich. Wesentlich ist aber auch, dass die Bedeutung der Ware an sich gesunken ist. Sie ist nicht nur ubiquitär verfügbar, sondern auch hinsichtlich der Bezugsquellen austauschbar: das Produkt ist physisch dasselbe, egal ob es im innerstädtischen Fachhandel oder im Online-Shop gekauft wird. Der Online-Handel hat inzwischen eine starke Wettbewerbsposition erlangt.
Das hat nicht nur Rückwirkungen auf das Einkaufsverhalten, sondern auch auf die Versorgungsfunktion bestimmter Geschäftslagen und Vertriebskanäle. Und auch Rückwirkungen auf essenzielle Fragen der Stadtentwicklungsplanung und der Raumordnung. Bei Nonfood-Artikeln ist der Online-Handel offenbar besser in der Lage, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen und einen entsprechenden Versorgungsauftrag zu erfüllen als der stationäre Handel. Der Wohnort spielt keine Rolle mehr, entscheidend ist ein guter und stabiler Internet-Breitbandanschluss. Das ist eine der Lehren, die aus den Corona-bedingten Lockdowns gezogen werden konnte. Überspitzt könnte man sagen, dass der Online-Handel wesentlich zu einer räumlichen Demokratisierung des Konsums beigetragen hat.
Nach Angaben des HDE Online Monitor erreichte der Online-Handel in Deutschland 2023 einen Marktanteil am Einzelhandel im engeren Sinne von ca. 13,2% (2015: ca. 8,3%), in der innerstädtischen Leitbranche Fashion & Accessoires lag der Marktanteil 2023 bei ca. 41,8% (2015 ca. 21,4%). Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass diese Umsatzverlagerungen von stationär zu online den innerstädtischen Einzelhandel unter Druck gesetzt haben und für viele Geschäftsaufgaben und Leerstände zumindest mitverantwortlich sind.
Wenn aber bei Fashion & Accessoires, die in jedem kommunalen Einzelhandelskonzept den zentrenrelevanten Sortimenten zugerechnet werden und in den zentralen Versorgungsbereichen ein entsprechendes Angebot vorbehalten sein soll, dann drängt sich die Frage auf, wie ein solches Einzelhandelskonzept seine planerische Steuerungswirkung entfalten soll, wenn bereits über 40% des Branchenumsatzes dieses wichtigsten Sortiments nicht durch den stationären Innenstadt-Handel gebunden wird? Spielt es da noch eine Rolle, ob weitere Kaufkraft für Mode bei Fachmärkten an der Peripherie landet? Sind Einzelhandelskonzepte durch die Digitalisierung obsolet geworden?
Abgesehen vom Thema Nahversorgung, die sich auf den kurzfristigen Bedarf bezieht, werden Einzelhandelskonzepte allein zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse offenbar nicht mehr benötigt. Mit dem Online-Handel gibt es eine neue Vertriebsform, die diese Aufgaben genauso gut, oder besser erfüllen kann als der stationäre Handel. Fazit: eine Versorgungsaufgabe trägt als Begründung für einen Steuerungsanspruch der Raumordnung zumindest für die Sortimente des mittel- und langfristigen Bedarfs nicht mehr.
Der Offline-Handel gewinnt eine neue Funktion
Wenn diese These so stimmt, ist ein Paradigmenwechsel nötig. Die Versorgungsbedeutung des stationären Handels ist bezogen auf die innerstädtischen Leitsortimente gesunken und wird noch weiter sinken. Dann müsste die Schlussfolgerung doch lauten: zur Versorgung der Bevölkerung wird der stationäre Handel nicht mehr unbedingt gebraucht. Doch dieser Gedanke darf über eins nicht hinwegtäuschen. Der stationäre Handel ist nicht nur für die Versorgung da. Er gewinnt eine neue Funktion, die so neu gar nicht ist: Denn während die Versorgungsfunktion zurückgeht, steigt seine städtebauliche Bedeutung!
Denn der Mensch braucht als soziales Wesen persönliche, physische Kontakt zu anderen Menschen. Seien es geplante oder auch zufällige Treffen oder auch nur die Neugier auf Begegnungen. Das erfordert physische Räume in Form von Plätzen und Kommunikationsräumen. Es sind im erweiterten Sinne Räume, die der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg bereits Ende der 1980er Jahre als den „dritten Ort“ jenseits von Wohnen und Arbeiten beschrieb. Prädestiniert dafür ist die Innenstadt. Attraktive städtische Räume und Plätze mit Aufenthaltsqualität und einem guten Gastronomieangebot auch im öffentlichen Straßenraum sind gegen Online-Shops weitgehend immun.
Gastronomie und Dienstleistungen, eine besondere oder abwechslungsreiche Architektur, Kulturangebote in jeglicher Form, Sehenswürdigkeiten, öffentliche Einrichtungen, attraktive und benutzbare öffentliche Straßen, Plätze und Grünzonen sind wichtige Bausteine einer Innenstadt. Aber ohne Einzelhandel ist eine attraktive Innenstadt nicht vorstellbar. Schaufenster und Warenauslagen des Einzelhandels ebenso wie ebenerdig zugängliche Ladenflächen sind für die Aufenthaltsqualität und Bummelatmosphäre ein unverzichtbares Element.
Daraus gewinnt der Handel seine Bedeutung für den Städtebau und partizipiert gleichzeitig an den Frequenzen, die der handelsübergreifende Nutzungsmix schafft. Aufgabe des Einzelhändlers ist, diese Frequenzen zum Schritt in den Laden zu motivieren, der Teil des öffentlichen Raums wird. Dies sollte dem stationären Handel gelingen, indem er bei den Kunden den Bedarf weckt, den haptischen Kontakt zur Ware herzustellen, die Auswahl durch An- und Ausprobieren zu erleichtern, die persönliche Beratungsfunktion, die Warenkombinationsfunktion, die Ladengestaltung, die es häufig mit jeder Website aufnehmen kann. Das dürfte für viele Verbraucher ausschlaggebend sein.
Der stationäre Einzelhandel muss seine Stärke für die City nutzen
Eine Reduktion des kommunalen Steuerungsanspruchs in der Einzelhandelsentwicklung darf deshalb nicht erfolgen – auch wenn der Marktanteil des Online-Handels beim Leitsortiment Mode & Accessoires bei über 40% liegt. Das Argument, eine verweigerte Genehmigung für einen zentrenrelevanten Einzelhandelsbetrieb im Gewerbegebiet würde dazu führen, dass das Internet noch mehr Marktanteile gewinnt, reicht nicht. Denn ein solcher Standort wird einen weiteren Umsatzzuwachs des Internets nicht verhindern. Hier sind andere Maßnahmen gefordert.
Was bedeutet das für Einzelhandelskonzepte? In ihrer inhaltlichen Ausrichtung ist insofern ein Paradigmenwechsel notwendig, als deutlich stärker auf die städtebauliche Bedeutung des Handels bzw. auf seinen Beitrag zu einer attraktiven städtebaulichen Erscheinung in der Innenstadt reflektiert werden muss – weniger auf seine Versorgungsbedeutung und -leistung. Das wird gerade auch bei strittigen Genehmigungsverfahren vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 30.01.2018, Rs. C-31/16, Visser / Appingedam) und den Anforderungen aus der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie zunehmend wichtiger werden.
Da zum Einkaufen niemand mehr in die Innenstadt muss, braucht es andere Motive: eine neue Lust auf Stadt und Urbanität, getragen von der Möglichkeit zum gemeinsamen Bummeln, dem Gastronomiebesuch, dem zufälligen oder arrangierten Treffen von Freunden und Bekannten, vielleicht aber auch nur aus Neugier auf neue Erlebnisse. Innenstadträume, die Bewohnern und Besuchern solche Anreize bieten, sind dann die „dritten Orte“, sind identitätsstiftende Agora und Bürgerforum, sind durch den sozialen Austausch auch wesentliche Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens.
Ohne Handel wird dies nicht gehen, nur mit Handel auch nicht. Dazu braucht es mehr! Darauf müssen zukunftsorientierte Einzelhandelskonzepte reagieren und für die Stadtentwicklungsplanung Antworten finden. Für den innerstädtischen Handel muss eine ökonomische Basis gegeben sein, die geeignete Standortbedingungen, Nachbarschaften, Aufenthalts- und Erlebnisqualitäten erfordert, die er nicht allein schaffen kann, zu der er aber selbst einen wesentlichen Beitrag liefert. Ohne steuernde und gleichzeitig investive sowie gestaltende kommunale Maßnahmen wird dieses Ziel für viele Städte jedoch unerreichbar bleiben.