Lautete die Überschrift über dem Global Retail Attractivness Index (GRAI) für 2022 noch, dass die Stimmung schlechter als die Lage ist, zeigen sich im ersten Halbjahr 2023 auf den europäischen Einzelhandelsmärkten erste spürbare Erholungstendenzen. Auch die Zahl der Länder, in denen in diesem Zeitraum der Trend nach oben zeigt, ist von nur sechs im ersten Quartal auf elf der insgesamt 15 europäischen Länder gestiegen. Der Index von Union Investment misst die Attraktivität der Einzelhandelsmärkte in Europa, in Amerika und in der Asien-Pazifik-Region.
Der Aufwärtstrend im ersten Halbjahr hat einen Grund, wie Roman Müller, Leiter des Bereichs Retail Investment bei Union Investment Real Estate, darlegt: Denn nachdem schon seit längerem ein positiver Trend auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten ist und sich auch die Einzelhandelsumsätze positiv entwickeln, „gibt nun auch der Anstieg bei der Verbraucherstimmung in den meisten europäischen Ländern Anlass zur Hoffnung, dass sich die Erholung in der Breite weiter fortsetzt und die Märkte auf ihr Attraktivitätsniveau von vor der Pandemie zurückkehren“.
Zu dieser Stimmungsaufhellung unter den europäischen Verbrauchern haben laut Müller vor allem der in den vergangenen Monaten zu beobachtende Rückgang bei den Inflationsraten und die in vielen Branchen zuletzt zum Teil deutlich gestiegenen Löhne beigetragen: „Insgesamt steigt die Hoffnung auf ein ,Soft Landing‘ der europäischen Volkswirtschaften“, so der Bereichsleiter Retail Investment. Dabei geht er davon aus, dass es sich hier nicht um eine Eintagsfliege handelt, da die Verunsicherung in den Märkten und unter den Verbrauchern mit weiter sinkenden Inflationsraten und dem absehbaren Ende des Zinserhöhungszyklus bei der Europäischen Zentralbank (EZB) weiter abnehmen und dieser Trend auch zunächst anhalten wird. Hinzu kommt die spürbare Stimmungsaufhellung im stationären Einzelhandel, die darauf zurückzuführen ist, dass der Online-Anteil an den Einzelhandelsausgaben nach Erreichen des Peak während der Corona-Pandemie im europäischen Durchschnitt wieder rückläufig ist.
Diese Entwicklung des Global Retail Attractiveness Indexes für 15 EU-Länder wird auch durch die Zahlen der Teilindikatoren widergespiegelt. So verbesserte sich die Verbraucherstimmung gegenüber dem zweiten Quartal 2022 um 8 auf insgesamt 85 Punkte, der Arbeitsmarkt legt um 6 auf 137 Punkte und der Einzelhandelsumsatz um 9 auf 135 Punkte zu. Lediglich die Stimmung dereuropäischen Einzelhändler blieb laut Union Investment mit 100 Punkten mehr oder weniger unverändert. Der halbjährlich vom Marktforschungsunternehmen GfK ermittelte GRAI setzt sich aus den beiden Stimmungsindikatoren Verbrauchervertrauen und Händlerstimmung sowie den beiden datenbasierten Indikatoren Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes und der Arbeitslosigkeit zusammen. Laut Union Investment gehen alle vier Faktoren mit je 25% in den Index ein.
Besonders positiv ist der Einzelhandelsmarkt in Polen
Gemessen am Vorjahreszeitraum ist der Global Retail Attractiveness Index in den 15 betrachteten Ländern damit um knapp 6 auf durchschnittlich 113 Punkte gewachsen, wobei ein Wert von 100 Indexpunkten einen durchschnittlichen Wert darstellt. Der Blick auf die Indizes der einzelnen Länder zeigt jedoch ein sehr heterogenes Bild. Besonders positiv stellt sich der Einzelhandelsmarkt in Polen dar, wie der Spitzenwert von 131 Punkten zeigt. Hier hat die hohe Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine zu einem Anstieg der Nachfrage im Handel geführt. Es folgen Tschechien mit 120 Punkten und Portugal mit 118 sowie Deutschland und Italien mit je 116. Besonders deutlich waren die Zuwächse bei der Einzelhandels-Attraktivität laut Studie mit neun bzw. zehn Punkten in Großbritannien, Polen, Spanien und Italien.
Mit einem Plus von drei Punkten fällt der Aufwärtstrend im deutschen Einzelhandelsmarkt – gemessen an den Shooting-Stars – dagegen moderat aus. Diese gemäßigtere Entwicklung führt Roman Müller auf die früher sehr starke Abhängigkeit vom preisgünstigen russischen Gas zurück, wodurch Deutschland nach dem Stopp der Gaslieferungen makroökonomisch besonders unter den gestiegenen Energiekosten zu leiden hat. Über die Folgen der hohen Energiepreise für die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland wird derzeit heftig diskutiert. „Gleichzeitig ist das hierzulande stark vertretende verarbeitende Gewerbe sehr zinssensitiv und leidet überdurchschnittlich stark unter den deutlich strafferen Finanzierungsbedingungen“, zählt der Bereichsleiter Retail Investment weiter auf.
Und beim Blick auf die deutschen Cities und die Entwicklung der Einzelhandelsumsätze hier zeigt sich nach seinen Worten, dass „der ausländische Tourismus hierzulande noch nicht wieder zurück auf dem Vor-Corona-Niveau ist“. Der sehr starke Binnentourismus könne den Anteil der internationalen Touristen zwar kompensieren, doch mache sich bemerkbar, dass deutsche Kunden deutlich preissensibler sind als ausländische Touristen. Diese haben laut Müller vor allem in südeuropäischen Metropolen zuletzt für eine sehr gute Entwicklung der Einzelhandelsumsätze gesorgt.
Ungünstige Lage in den skandinavischen Ländern
Noch ungünstiger als in Deutschland ist allerdings die Lage in Schweden mit 88 Punkten und Österreich mit 90 Punkten – hier gingen die Indizes um vier bzw. fünf Punkte sogar noch weiter zurück – sowie in Dänemark mit 93 Punkten. „In diesen Ländern ist die hohe Inflation besonders hartnäckig“, weiß Müller zu berichten: „In Schweden kommen zudem noch Probleme auf dem Wohnimmobilienmarkt hinzu, die das verfügbare Einkommen senken und auf die Stimmung der Verbraucher drücken.“ Denn ein Großteil der schwedischen Privathaushalte habe nach dem Kauf von Wohneigentum in der Zeit der Niedrigzinsphase nach der jüngsten Zinswende nun eine deutlich höhere Zinslast zu tragen. Hier wurden beim Wohnimmobilienkauf vor allem variable Zinssätze oder kurze Finanzierungslaufzeiten vereinbart.
In Finnland wirkt sich – neben der hohen Inflation – vor allem die geografische Nähe zu Russland dämpfend auf den Einzelhandelsmarkt aus. Ein weiteres Problem für die skandinavischen Einzelhandelsmärkte ist laut Müller der im europäischen Durchschnitt besonders hohe Online-Anteil an den Einzelhandelsumsätzen, was sich negativ auf den stationären Einzelhandel auswirkt. Dazu tragen vor allem höhere Homeoffice-Quoten in diesen Ländern und die – gemessen an Kontinentaleuropa – generell höhere Online-Affinität der Menschen bei.
Beim Blick auf die Entwicklung der Teilindikatoren Verbraucherstimmung, Stimmung der Händler, Arbeitsmarkt und Einzelhandelsumsatz in den nächsten Monaten in Europa prognostizieren GfK und Union Investment eine Aufhellung, „wenn ein ,Soft Landing‘ der europäischen Volkswirtschaften gelingt und der Zinsgipfel erreicht ist.“ Denn mit sinkenden Inflationsraten und sich beschleunigendem Lohnwachstum werden die Realeinkommensverluste geringer ausfallen, wobei hier laut Müller perspektivisch mit einer Umkehr zu rechnen ist: „Aber wie alle Vorhersagen ist auch diese Prognose abhängig von der weiteren Entwicklung des Kriegs in der Ukraine und insbesondere der Energiekostenbelastungen während des Winterhalbjahrs 2023/24.“
In den EU-15-Index gehen die Indizes der EU-Länder Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Niederlande, Belgien, Irland, Portugal, Polen und Tschechien sowie Großbritannien ein.