Rückblick 2019: Der Handel im digitalen Zeitalter

Den Kunden niemals aus dem Auge verlieren

Professorin Katja Nettesheim. Foto: Wisag

HIR DÜSSELDORF.Wie können Unternehmen im digitalen Zeitalter erfolgreich sein? Welcher Führungsstil hilft ihnen dabei weiter? Und welche konkreten Lösungen bieten digitale Technologien dem Handel? Diese und weitere Fragen rund um den digitalen Wandel, seine Folgen und seine Chancen für die Retail-Branche standen im Zentrum der vierten Innovationsschmiede.

Zur Innovationsschmiede hatte die WISAG 2019 erneut rund 50 Experten aus der  Handelsimmobilienbranche nach Frankfurt am Main geladen. Das Ziel: gemeinsam Impulse aus Erfahrungen von Branchenexperten erhalten, diskutieren und einen Blick in die Glaskugel wagen. Moderiert wurde die Innovationsschmiede von Marc Oliver Opresnik, Mitglied des Direktoriums am SGMI Management Institut St. Gallen.

„Wir können viel von Unternehmen lernen, die erfolgreich den Markt disruptieren“, lädt Opresnik in seiner Keynote die Teilnehmer zum Andersdenken ein. Etablierte Unternehmen, so führt der Experte aus, arbeiten vornehmlich an der Produktoptimierung, lassen dabei aber andere Kundensegmente außer Acht und behalten dabei den Wettbewerb nicht im Blick. Das Kerngeschäft sei der Kunde. „Wer disruptiv arbeiten möchte, muss versuchen, neue Spielfelder zu finden und in jede Bedarfslücke zu springen“, so Opresnik. Wer innovativ sein will, solle nicht auf Andere schauen, sondern die Dinge vorwegnehmen.

„Die Botschaften von Marc Oliver Opresnik sind gut auf den Handel übertragbar“, sagt Joaquin Jimenez Zabala, Vertriebsleiter Shopping Center bei der WISAG Facility Management Holding GmbH & Co. KG: „Es gibt viele Unternehmen der Handelsbranche, die mit ganz neuen Produkten oder Dienstleistungen erfolgreich geworden sind – weil sie die Lücke als Erstes entdeckt haben“. Entscheidend sei somit nicht, ob Händler möglichst viel oder ausschließlich digital unterwegs sind, so Zaballa weiter. Es ginge vielmehr um die Frage, welchen Bedarf bestehende und potenzielle Kunden haben und mit welcher Lösung Händler ihnen einen wirklichen Mehrwert bieten können – ob auf analogem, digitalem oder kanalübergreifendem Weg.

Die „Kundenzentrierun“ stellte auch Katja Nettesheim, Professorin für Digitales Medienmanagement an der Steinbeis-Hochschule Berlin, in den Mittelpunkt ihres Vortrags. „Der Kunde ist der einzige Fixpunkt. Um ihn zufrieden zu stimmen, ist heute in Unternehmen ein Führungsstil notwendig, der mehr Freiräume zulässt“, betont Katja Nettesheim. Man müsse Mitarbeitern Freiräume für eigene Entscheidungen einräumen – Freiräume, um von Kunden lernen und individuell auf ihr Feedback eingehen zu können. „Bei engagierten Mitarbeitern sind allzu viele Regeln Motivationskiller. Das Team muss als Jazz-Combo zusammenarbeiten, in der die Musiker ein hohes Maß an Freiheit genießen, um gemeinsam etwas Großes zu schaffen“, ist Nettesheim überzeugt. Eine Orchester-Struktur mit klarer Arbeitsaufteilung und hierarchischer Anordnung sei dagegen kontraproduktiv.

Eine Lücke erkannt und ein wertvolles Gut für Hersteller und Händler entwickelt hat auch Dominic Blank, Gründer und CEO des Start-ups POSpulse und Teilnehmer der Innovationsschmiede. Während seiner Studienzeit in den USA hat er einen digitalen Sommelier entwickelt, den sogenannten Winefinder. Die Idee dahinter: Dem Kunden helfen, unter tausenden edlen Tropfen den zum Anlass und Geschmack passenden herauszusuchen – direkt am Supermarktregal.

Der Winefinder legte den Grundstein für sein heutiges Unternehmen POSpulse. Denn Dominic Blank wurde durch seine regelmäßige Anwesenheit in verschiedensten Supermärkten vor Augen geführt, welche Auswirkung die Platzierung oder gar Inszenierung von Produkten im betreffenden Umfeld im Store hat. „Die Hersteller von Produkten wissen nicht, was in den Läden läuft – Blackbox Point of Sale“, erkannte er.

Ein Team sollte als Jazz-Combo zusammenarbeiten

Dominic Blank hat mit seinem heutigen Start-Up eine Community auf die Beine gestellt, in der rund 800 000 angemeldete Endverbraucher direkt am Point-of-Sale, von zuhause oder unterwegs, Feedback geben. Subjektiv beurteilen die sogenannten Spottr via App auf Abruf, ob das entsprechende Produkt überhaupt im Regal vorhanden ist, wie die Promotion ausfällt, ob Ambiente und Beratung stimmen etc. Und sie untermauern ihre Erkenntnisse mit Fotos.

Bei diesen Endverbrauchern handelt es sich um Menschen zwischen 18 und 75 Jahren, mit unterschiedlichem sozialem Background und Budget. Nutznießer und somit Kunden von POSpulse sind „alle, die stark vom Absatz im Handel abhängig sind“, so Blank. „Wir vernetzen unsere Kunden, die Händler und Hersteller, mit potenziellen Endkunden. Unsere Kunden können jederzeit online die hochgeladenen Informationen und Bilder einsehen und bekommen so automatisch und zügig eine Analyse geliefert – auf Basis harter Fakten und echter Kundenurteile. Damit haben Unternehmen die Chance, rechtzeitig und gezielt zu handeln.“

Sie können beispielsweise ihre Promotions verstärken, das Produktdesign verändern oder ggf. bei den Verantwortlichen der Stores Optimierungen einfordern. Um einen reibungslosen Ablauf dieser Methodik zu gewährleisten, erhalten die Spottr monetäre Entlohnungen. Zusätzlich sorgen technologische Features wie GPS Check-in am POS und manuelle Datenvalidierungen seitens POSpulse sowie interne Rankings und Belohnungssysteme für zuverlässige Ergebnisse.

„Insgesamt machen alle Einblicke in die Praxis deutlich, was auch im digitalen Zeitalter bestimmend ist: Es geht nicht darum, ein Höchstmaß an digitalen Technologien einzusetzen, sondern um Lösungen, die Unternehmen und ihren Kunden das Leben leichter machen“, fasste Joaquin Jimenez Zabala die Botschaften zusammen. „Und das gilt gleichermaßen für alle Akteure: Shopping-Center-Betreiber, Einzelhändler und auch Facility-Service-Dienstleister. Das einzige Ziel ist es, sicherzustellen, dass Verbraucher gerne einen Store oder ein Einkaufszentrum besuchen, verweilen, konsumieren und natürlich wiederkommen“.

Der nächste Branchentreff lässt nicht mehr lange auf sich warten. Bei der Reboot-Konferenz, dem neuen Veranstaltungsformat des German Council of Shopping Places, schauen Experten der Handelsbranche und ganz anderer Disziplinen gemeinsam in die Zukunft. Neben dem Segment Shopping-Center beteiligen sich auch die Segmente Retail Service und Logistik der WISAG als Creative Partner an der Konferenz, die am 22. und 23. Januar 2020 in Berlin stattfindet.