Strukturwandel im Einzelhandel

Das Rad muss nicht neu erfunden werden

Geselligkeit bleibt wichtig. Foto: ECE

Die Zwangsmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen zielen genau auf die Strategie, mit der Nonfood-Händler, Innenstädte und Shopping-Center ihre Konzepte attraktiv machen wollten: das soziale Leben in den Einkaufslagen. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dieser Ansatz nicht an Wert verloren hat.

Seit der Online-Handel das Einkaufsverhalten der Konsumenten immer mehr verändert, viele Standardkäufe ins Internet verlagert werden, suchen die betroffenen stationären Einzelhändler, die Immobilieneigentümer und Shopping-Center-Betreiber nach der richtigen Antwort auf die virtuelle Konkurrenz. Dass jeder stationäre Einzelhändler, und sei er auch noch so klein, irgendwie im Internet präsent sein muss, um vom Kunden gefunden zu werden, gehört inzwischen schon zu den alten Weisheiten der Branche. Denn die Zwangsschließungen im März/April haben inzwischen dem letzten Einzelhändler drastisch vor Augen geführt, wie wichtig es ist, über das Internet trotzdem weiter verkaufen zu können.

Mit Blick auf die zu erwartenden Leerstände in den innerstädtischen Einkaufsstraßen durch die Insolvenz klassischer Einzelhandelsmieter hatte das Bundeswirtschaftsministerium (Handels)Verbände sowie Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft zum „virtuellen Runden Tisch“ geladen, um über Lösungsansätze zu diskutieren. Des Weiteren sollen in den nächsten Monaten in Workshops kreative Lösungen entwickelt werden, um das Ladensterben zu verhindern und die Innenstädte zu beleben.

Dabei liegt der Schwerpunkt nach all den Erfahrungen auf dem Umgang der Branche mit der fortschreitenden Digitalisierung. Hier bietet das BMWI dem Handel mit dem Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum bereits Unterstützung an, damit auch der kleinteilige Facheinzelhandel, der vor allem in den Mittel- und Kleinstädten die Einkaufsstraßen belebt, den Anschluss an die heutigen Kunden behält.

Neben dem Aufbau einer Multi- resp. Omnichannel-Strategie geht es für den stationären Einzelhandel aber zweifellos um die fast noch schwierigere Frage, was er neben dem reinen Angebot von Ware bieten muss, damit die Kunden sich auf den Weg in die Stadt oder ins Shopping-Center machen und nicht einfach vom Sofa aus bestellen und die Ware an der Haustür in Empfang zu nehmen. Dass Beleuchtung, Warenpräsentation und Ladengestaltung für ein angenehmes Ambiente sorgen müssen, darüber herrscht heute sicherlich Konsens. Hinzu kommen Themen wie Gastronomie für die Aufenthaltsqualität.

Beim Sortiment ist noch viel Luft nach oben

Zweifellos ist im hiesigen stationären Einzelhandel in punkto Sortimentsverbesserung aber noch Luft nach oben. So präsentieren Großbetriebe ihre Ware frei nach der Philosophie „Masse erzeugt Umsatz“ auf großen Flächen riesige Mengen an Schuhen oder Jacken, die sich z.T. nur in Nuancen voneinander unterscheiden. Gemäß der industriellen Plattform-Strategie entsteht Vielfalt, indem aus ein oder mehreren Grundprodukten durch leichte Veränderungen das Grundsortiment erweitert wird. Dadurch gibt es aber zu viel von immer dem gleichen Produkt. Und das in einer Zeit, in der Individualität und Kreativität großgeschrieben werden.

So bemängelte auch Michael F. Guntersdorf, Dezernentfür Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt am Main, beim jüngsten Handelsimmobilien-Gipfel, dass es in vielen großen Geschäften zu viele Warenberge und in den Innenstädten zu wenig Qualität gebe. Diese Angebotsstrategie korrespondiert aber mit dem Zeitgeist in der Wirtschaft, durch Massenfertigung effizient zu produzieren und die Kosten niedrig zu halten. Dadurch wird der Kunde aber auf „Preissensibilität“ getrimmt.

Hier fallen der Konsumgütersektor resp. die Mode-Branche nicht aus dem Rahmen. Die standardisierte Produktion im Rahmen einer Globalisierungsstrategie gehört zur „Masse-erzeugt-Umsatz-Denke“ vieler Anbieter – und auch, dass es dadurch im Bekleidungs-Segment weltweit etwa 30 bis 40% zu viel Ware gibt. Dieses Problem lastet schon seit vielen Jahren auf der Modebranche und wurde 2020 durch den Umsatzausfall während des Shutdowns noch verschärft. Diese Strategie taugt aber nicht, dem Kunden – in Abgrenzung zum Online-Handel – den Einkauf im stationären Einzelhandel schmackhaft zu machen – was nicht heißen soll, dass es nicht auch erfolgreiche Konzepte gibt, die den Geschmack der Kunden treffen.

Dass etwa die Shopping-Center-Betreiber in diesem Umfeld nach innovativen Konzepten suchten und die Gastronomie als Garant für Aufenthaltsqualität und Frequenz verstärkt in die Einkaufszentren holten, war angesichts des lang anhaltenden konjunkturellen Aufschwungs mit wachsenden Konsumausgaben und einem zunehmenden Interesse an Freizeitbeschäftigung nur folgerichtig.

Die Einschränkungen im Zuge der Covid-19-Pandemie zielen nun aber genau auf diese Freizeitgestaltung und die neue Funktion der Einkaufszentren als soziale Treffpunkte und Marktplätze ab. Profitieren können nun dagegen kleinere Stadtteilzentren mit dem Fokus auf Nahversorgung. Denn der Lebensmitteleinkauf ist derzeit die maßgebliche Konstante im Einzelhandel.

Für die weitere Entwicklung des Nonfood-Handels und der Handelsimmobilienwirtschaft resp. der Shopping-Center werden zwei Themen von Bedeutung sein: Zum einen die Frage, wie sich die Infektion im Herbst- und Winter ausbreiten und wie lange demzufolge die Beschränkungen des sozialen Lebens andauern werden und – abhängig davon – zum andern, welche Folgen dies für die konjunkturelle Entwicklung und die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Zahl der Arbeitslosen haben wird. Klar ist nur: Irgendwann wird sich das Leben wieder normalisieren.

In den 1990er-Jahren setzten die Warenhäuser auf Erlebniskauf

Eine parallele Entwicklung gab es in den 1990er-Jahren als sich die Warenhauskonzerne vom Massengeschäft verabschiedeten und auf eine Strategie des Trading-up setzten. Dass der Verkaufsraum zur Theaterbühne werden müsse, also mehr Erlebnis gefragt war, gehörte auch damals zum Leitgedanken der Verkaufsstrategie. Die Horten AG, die 1994 inklusive ihres Konzepts von Kaufhof übernommen wurde, lehnte sich mit ihrem „Galeria-Konzept“ an die großen Passagen wie die GalleriaVittorio Emanuele in Mailand an und setzte bei den Modemarken auf ein Shop-in-Shop-System – um den Eindruck einer Passage zu vermitteln.

Karstadt setzte auf sein Themen-Haus-Konzept, bei dem die Sortimente beispielsweise bei Heimtextilien und Glas/Porzellan/Keramik aufeinander abgestimmt waren und der Kunde den Anreiz hatte, sich in diesem Stil neu einzurichten. Das Platzen der Hightech-Blase im Frühjahr und die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001 stürzten auch die deutsche Volkswirtschaft in die Krise. Bei 6 Millionen Arbeitslosen war vor allem „Discount“ Trumpf.

Dass vor allem Karstadt danach schwer ins Straucheln geriet, lag mehr an der verfehlten Unternehmensstrategie des Mehrheitsgesellschafters und des Managements, wurde durch den wirtschaftlichen Abschwung aber noch beschleunigt.

Der folgende Aufschwung von 2005 bis 2007 und vor allem der lange Aufschwung nach der Finanzmarktkrise bis zum Ausbruch der Pandemie haben aber gezeigt, dass diese Werte grundsätzlich ihre Richtigkeit haben. Auch wenn die aktuellen Beschränkungen die konjunkturelle Entwicklung zeitweise beeinträchtigen, so liegt die Zukunft des Einzelhandels vor allem in einer stärkeren Orientierung an den Wünschen der Kunden und an Qualität, in der Profilierung des eigenen Konzepts und der Abkehr vom „Masse-erzeugt-Umsatz-Denken“, sprich dem Angebot von zu viel von immer derselben Ware im Rahmen der Plattformstrategie.